Veröffentlicht in Übersetzung, Memorial

Mischas Verbrechen

In Gedenken an alle, die in den Zeiten des kommunistischen Terrors und unter Stalins Regime leiden und sterben mussten.

Übersetzung (von mir) aus dem Russischen und Fotos – mit freundlicher Genehmigung von Andrej Schalajew – dem Gründer und Betreiber der russischen Internet-Plattform Bessmertny Barak

Wir wissen nicht viel über das Leben von Mischa Schamonin, nur – wie es zu Ende ging. Er war ein Straßenkind und dreizehn Jahre alt, als er am 4. Dezember 1937 in Hungersnot zwei Brotlaibe stahl. Dabei wurde er erwischt und der Miliz übergeben. Es passierte  in einem Laden, also war es Unterschlagung von Staatseigentum und somit ein besonders schweres Verbrechen. Kinder zu töten erlaubte Stalin schon 1935, indem er die Anwendung des höchsten Maßes an Sozialschutz – die Erschießung – ab dem zwölften Lebensjahr legalisiert hatte.

Der Ermittler war sehr bestrebt, Mischas Akte so schnell wie möglich zu schließen; sein Geburtsdatum wurde sogar in den Unterlagen ‚korrigiert‘, sodass der Junge plötzlich fünfzehn war. Das Urteil wurde gesprochen, der Fall des Diebstahls von Staatseigentum in Form von zwei Brotlaibe geschlossen und der gefährliche Verbrecher umgehend nach Butowo gebracht. Am 9. Dezember 1937, bereits fünf Tage nach seiner Verhaftung, wurde Mischa Schamonin hingerichtet – mit einem Schuss in den Hinterkopf.

Auf dem Gefängnis-Foto ist er in einem alten Mantel abgebildet, der Mantel ist ihm viel zu groß … Es ist unsagbar schmerzlich, dem Jungen in seine wissenden Augen zu schauen, das zu fühlen, was er in dem Moment fühlte, das zu denken, was er dachte … Können wir das überhaupt, oder ist es jenseits unserer Vorstellungskraft?

Ehemaliger Militär-Übungsplatz in Butowo (Gebiet Moskau). Allein im Jahr 1937 sind hier 20762 Menschen hingerichtet worden, darunter auch Kinder.
Ehemaliger Militär-Übungsplatz in Butowo (Gebiet Moskau). Allein im Jahr 1937 sind hier 20762 Menschen hingerichtet worden, darunter auch Kinder.

Quelle:
https://bessmertnybarak.ru/Shamonin_Mikhail_Nikolaevich/
https://bessmertnybarak.ru/article/butovo/
und auf Instagram

Autor:

Geboren bin ich 1954 in einem deutschen Dorf in Westsibirien (Gebiet Omsk), lebe seit 1992 in Deutschland. Nach 18 Jahren Bibliotheksarbeit in Omsk und 20 Jahren in der Stadtbücherei Lüdenscheid bin ich nun seit Dezember 2019 Rentnerin. Ich schreibe gern für meine Blogs und für die Homepage. Es gibt zwei Buchveröffentlichungen von mir: "In der sibirischen Kälte" und "Andersrum". Einige meiner Texte sind auch als eBooks im Internet frei zugänglich.

9 Kommentare zu „Mischas Verbrechen

  1. Die Beiträge „Mischas Verbrechen“ und „Mein Großvater“ haben mich tief bewegt und zeigen auf, was in totalitären Regimen alles möglich war. Es ist also keinesfalls selbstverständlich in einer Demokratie mit all ihren Stärken und vermeintlichen Schwächen zu leben und man sollte es sich gerade in der heutigen Zeit, geprägt von einem Gefühl latenter Bedrohung und Unsicherheit, immer wieder vor Augen führen.

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    1. So ist es! Genau das sage ich mir auch immer wieder und manchmal auch denjenigen, die die Politik in Deutschland kritisieren. Es wird hier auch nicht immer alles richtig gemacht, aber viele haben keine Ahnung, wie es war in dem Land, aus dem ich komme, wie es war zu Lenins und Stalins Zeit, wie es immer noch zum großen Teil – zu Putins Zeit – ist.
      Übrigens hätte ich am 4. Dezember mein Jubiläum feiern können – 25 Jahre in Deutschland! – habe aber erst jetzt daran gedacht 🙂
      Danke, Andreas, fürs Lesen, auch wenn es keine leichte Kost ist.

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  2. Ich glaube, es ist jenseits unserer Vorstellungskraft – aber die Empathie ist da und das nicht Begreifen können – das Bewusstwerden – das wir trotz aller Schwierigkeiten im eigenen Land oder der eigenen Vergangenheit – immerhin ein würdevolles Leben leben dürfen!

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  3. Auch wenn ich mich während meines Studiums mit dem Thema befasst habe, einiges vor Ort gesehen und zahlreiche Memoiren, Dokumente, Erlasse gelesen habe, also nicht erstaunt bin über die Dimensionen des Terrors (die hierzulande eher unterschätzt werden), bewegen mich Deine Beiträge zu diesem Thema. Besonders aber dieser Beitrag und das Bild dieses Jungen, dieser Blick des Kindes, versinnbildlichen das eigentlich Unfassbare.

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    1. Wie viele Kinder waren es, die ermordet, eingesperrt, denen ihre Eltern und Großeltern weggenommen wurden? Wer kann das jetzt noch sagen? Die Zahlen gehen ins Unermessliche …
      Danke fürs Lesen und Mitfühlen 💕

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  4. Geschockt, ergriffen und mit Respekt lese ich diese Zeilen. Seit vielen Jahren beschäftige ich mit diesem Totalitarismus. Das russische Monster, neben anderen der Zeit sollte durch mutige Menschen, wie Sie es sind nicht der Vergessenheit übergeben werden. Ich arbeite heute noch als erwachsener Mann, die Verlogenheit der Schulzeit richtig zu stellen. Alles „Helden“, der Revolution, des WW2…Es muß mehr Ihrer geben!!! Es ist schwer gegen Dumheit, Unwissen und Halbwahrheiten anzukämpfen, meinen hochachtenden Respekt..
    In dieser Sache verbunden

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