Veröffentlicht in Persönliches, Psyche

So war es und so ist es – Im Krankenhaus

Sechsundzwanzig Jahre schon lebe ich in Deutschland und muss zugeben, ich vergleiche immer noch – dieses Land mit dem anderen, den ersten Teil meines Lebens mit dem zweiten. Das geschieht ohne mein Zutun, die Gedanken sind einfach da – beim Einkaufen, beim Bus- oder Zugfahren, bei alltäglichen Erledigungen. Ich finde die Unterschiede stets aufs Neue erschreckend und bedrückend, besonders im Bereich der Medizin.

So war es in Russland

Die Erinnerungen führen mich zurück zu meinem ersten Krankenhaus-Aufenthalt überhaupt – zum Oktober 1972. Ich war achtzehn Jahre alt.

Aus dem Buch „In der sibirischen Kälte“:

Diesem ersten Aufenthalt folgten in unterschiedlichen Abständen viele andere, darunter auch zwei von der ganz schlimmen Sorte. Nachstehend noch ein Ausschnitt aus meinem Buch oder vielleicht besser gesagt – aus der schmerzhaftesten Erinnerung meines Lebens.

… Es war schon weit über Mitternacht, als ich mich endlich auf dem mir zugewiesenen Bett niederlassen durfte … im Korridor. Man gab vor, alle Zimmer seien belegt. Damals glaubte ich es oder akzeptierte es einfach. (Was hätte ich auch dagegen tun können?). Heute denke ich über die Sache anders. 
Der Flur war lang und dunkel; auch bei Tageslicht wurde es dort nicht viel heller. Unweit von meinem Bett befand sich das Behandlungszimmer und man kann sich leicht vorstellen, wie unruhig es um mich herum war. In meinem Inneren sah es keineswegs besser aus – da herrschte Chaos.
Ich lag unter der Decke, mit dem Gesicht zur Wand und versuchte, alles zu mobilisieren, was ich an Kraft und Vernunft besaß, um mich zu beruhigen. Viel Macht besaß ich über meinen psychischen Zustand nicht, im Grunde gar keine. Irgendwann schlief ich dann doch ein, um schon im nächsten Moment – so kam es mir vor –  wieder aufzuschrecken. Etwas hat mich geweckt …
Ich setzte mich auf.
Am Ende des Flurs fiel durch das hohe Fenster graues Licht ein – der Tag brach an. Eine Schwester eilte an mir vorbei und als ihre Schritte verhallt waren, hörte ich es – ein leises Wimmern. Weinte irgendwo ein Kind? Das Wimmern – gleichmäßig, fortwährend – hörte sich nicht menschlich an. Ein Kätzchen? Aber in einem Krankenhaus?
Ich stand auf und sah mich um. Erst jetzt entdeckte ich am Fußende meines Bettes noch ein zweites. Wahrscheinlich hat man es hierher geschoben, während ich schlief. Das Geräusch kam eindeutig von dort. Ich näherte mich dem Gestell und sah darauf ein kleines Bündel liegen. Zwar konnte ich nichts Genaues erkennen, wusste aber schlagartig – das, was da in Tücher eingewickelt war, lebte.
Entsetzen machte sich in mir breit, denn mir war auch sofort klar, dass es sich nicht um ein Neugeborenes handelte. Mit Sicherheit würde man es hier nicht so achtlos abgelegt haben. Was war es dann? Ein Fötus? Ein viel zu früh geborenes menschliches Wesen?
Hilflos stand ich da und lauschte wie versteinert den dünnen, klagenden Lauten. Eine Schwester tauchte aus dem Behandlungszimmer auf und hoffnungsvoll dachte ich: Jetzt klärt sich bestimmt alles auf, aber sie ging an mir vorbei – stumm, gleichgültig.
Als ich erkannte, dass sich das Bündel kaum merklich bewegte, wurde mir schwindlig. Ich ging zurück zu meinem Bett, rollte mich darauf zusammen, zog die Decke über den Kopf und verharrte so, unfähig mich zu bewegen oder auch nur zu denken. Mein Verstand entglitt mir langsam. In die Bewusstlosigkeit? In den Schlaf? Als ich wieder zu mir kam und die Decke vorsichtig zurückschlug, war da nur noch die morgendliche Krankenhaus-Geräuschkulisse. Ich blickte zum anderen Bett. Leer. „Entsorgt“, blitzte es in meinem Kopf auf. Ja, man hat es entsorgt, vermutlich einfach in den Abfall geworfen.

Der Albtraum dieses Tages nahm damit leider kein Ende. Hierzu jedoch nur noch so viel: Mein eigenes Martyrium – ein Gang durch die Hölle – stand mir noch bevor …

Besonders oft war ich im Krankenhaus nach der Geburt meines zweiten Kindes. Da der Kleine schon sehr früh Allergien hatte und oft kaum noch Luft bekam, stand auch häufig ein Krankenwagen vor unserer Haustür. Es konnte nicht vermieden werden – wollte ich meinem Sohn helfen, musste ich den Notruf wählen und mit ihm ins Krankenhaus fahren. Auch wenn nur von kurzer Dauer – zwei-drei Tage – so war es für mich eine grauenvolle Tortur, denn die Regeln in der Kinderklinik waren im Grunde die gleichen wie im Geburtshaus. Ich war wieder eingesperrt, zusammen mit meinem Kind und zusammen mit meiner Panik. Man stelle sich vor (wenn möglich): Der Tag hat viele Minuten, unendlich viele, und jede Minute trägt eine Ewigkeit in sich. In dieser Ewigkeit lebte ich, fühlte ich. Da war nichts anderes mehr, was das Leben lebenswert machte, da war nur die Qual, die Endlosigkeit, die Gewissheit, dieser Gefangenschaft, diesem Grauen nie mehr entkommen zu können.
Erst viel später, im Alter von etwa sieben Jahren, wurde meinem Sohn die Diagnose „Asthma bronchiale“ gestellt und er bekam ein Spray verschrieben, das ihm in der Atemnot half.

Aber jetzt möchte ich nicht mehr über die Vergangenheit schreiben – das war für mich, offen gestanden, wieder Erinnerung genug.

So ist es in Deutschland

Auch in Deutschland bin ich schon des Öfteren in einem Krankenhaus gewesen, das erste Mal 1997. Obwohl ich vor Einrichtungen solcher Art so große Angst hatte, war ich sehr erstaunt – die Panik blieb aus. Sie hatte keinen Nährstoff, sie konnte sich an nichts festkrallen! Denn ich war nicht eingesperrt. Man hatte mir nicht entwürdigend meine Kleidung weggenommen. Ich konnte den ganzen Tag über Besuch empfangen und durfte auch, sobald es mir möglich war und wann immer ich wollte, aus dem Gebäude in den Park gehen und die Sonne genießen. Ich wurde umsorgt und mit Respekt behandelt. Habe ich noch etwas vergessen? … Ich gebe zu – nicht nur einmal weinte ich im Stillen, weil mir zum wiederholten Mal vor Augen geführt wurde, wie wertvoll doch ein Menschenleben ist und wie wenig es in meiner früheren, sozialistischen Heimat bedeutet hatte.
Als mein erstes Enkelkind zur Welt kam, konnte ich die noch krasseren Unterschiede sehen – zwischen den Umständen, in denen meine Söhne geboren wurden, und der Atmosphäre einer Entbindungs-Station in Deutschland. Dazwischen liegen Welten, dazwischen gibt es keine Brücken!

Ob ich eines Tages mit dem Vergleichen aufhören kann? Ich fürchte, das wird mir nie gelingen.

Autor:

Geboren bin ich 1954 in einem deutschen Dorf in Westsibirien (Gebiet Omsk), lebe seit 1992 in Deutschland. Nach 18 Jahren Bibliotheksarbeit in Omsk und 20 Jahren in der Stadtbücherei Lüdenscheid bin ich nun seit Dezember 2019 Rentnerin. Ich schreibe gern für meine Blogs und für die Homepage. Es gibt zwei Buchveröffentlichungen von mir: "In der sibirischen Kälte" und "Andersrum". Einige meiner Texte sind auch als eBooks im Internet frei zugänglich.

13 Kommentare zu „So war es und so ist es – Im Krankenhaus

  1. Ich habe den Krankenhausbetrieb in der Ukraine kennengelernt – allerunterstes Niveau.
    Den in deutschen Kliniken kenne ich – leider – zur Genüge. Es fehlen noch immer so um 20% bis zur Note „gut“. Dennoch: Dein Bericht ist für mich ein Ordnungsruf: Mässige Dich, Alter! Was machbar ist, wird gut gemacht.Herzlich grüßt
    Roland

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    1. Das, worüber ich schreibe (betreffend Russland), war vor 40 – 45 Jahren. Vielleicht ist es jetzt so mancherorts meiner alten Heimat besser geworden, aber dann wird es eher die Ausnahme sein. Ich sehe Bilder und lese zu Genüge darüber, wie es da immer noch abläuft – oftmals noch schlimmer. Natürlich geht es nicht um private Kliniken, da sieht es dann wohl doch etwas besser aus.
      Danke fürs Lesen und liebe Grüße
      Rosa

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      1. Ich weiß es nicht, ich nehme an, an den Zuständen in Krankenhäusern hat sich nicht viel geändert. Aber ich hoffe, dass in der heutigen Zeit es auch in Russland normal sein muss und auch ist, Mutter und Kind nicht sofort voneinander zu trennen.

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      2. Fortschrittlich ist in dem Land nur die Korruption, die Armut der Menschen und die Willkür der Regierenden und Machthabenden, leider.
        Irgendwann kommt es da zum großen Knall … Wird auch Zeit.

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      3. Ich verstehe, wie du das meinst. Es ist halt schlimm, dass auch beim großen Knall wieder viele unschuldige Menschen leiden werden. Bin gespannt wie lang Putin sich noch an der Macht hält, befürchte dass das noch einige Jahre sein wird…

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