So unbürokratisch, so zügig, so routiniert (automatisiert, könnte man sagen) wurde meinem Großvater der Prozess gemacht – damals im Jahr 1937. Er war einer von zehn Angeklagten aus demselben Dorf und nur einer von vielen Millionen repressierten Menschen, die in Russland verurteilt, deportiert, in Lager gesperrt, gefoltert und hingerichtet wurden. Wenn ich die wenigen Zeilen aus dem Protokoll der sogenannten Troika lese – und viel mehr noch zwischen den Zeilen – dann wird mir ganz anders …
An einem Sommertag im Jahr 1937 …
Order Nr. 57
(Übersetzung und Original)
ORDER Nr. 57
Ausgestellt am 28. Juli 1937
Gültig für einen Tag
Genosse [Name ausradiert]
wird befohlen, die Hausdurchsuchung und Festnahme des Bürgers Geterle Iwan [Hetterle Johann] durchzuführen,
wohnhaft in Dobroje Pole.
Alle Bürger der UdSSR sind verpflichtet, bei der Ausführung dieses Orders mitzuarbeiten und Hilfe zu leisten.
![Anordnung Nr. 57, ausgestellt am 28. Juli 1937. Gültig für einen Tag für die Durchsuchung und Festnahme des Bürgers Geterle Iwan [Hetterle Johann], wohnhaft in Dobroje Pole](https://rosasblog54.files.wordpress.com/2020/03/img_20200311_0007.tif_.jpg)
Auszug aus dem Protokoll der Gerichtssitzung (Übersetzung und Original)
Auszug aus dem Protokoll Nr. 44 der Gerichtssitzung der Troika UNKWD, Omsk Gebiet | 17.11.1937 beschlossen: |
---|---|
Ermittlungsakte Nr. 7377 … Angeklagt: GETERLE Iwan Pawlowitsch [HETTERLE Johann], geboren 1871, Kulak. 1926 wurde ihm als Kulak-Ausbeuter und Diener Gottes das Wahlrecht entzogen, 1929 sein Eigentum expropriirt. Um einer Deportation zu entgehen, war er 1930 nach Donbass geflüchtet. Ihm wird vorgeworfen: Agitation gegen die Sowjetregierung, Diskreditation der kommunistischen Partei, Infizierung aus kontrrevolutionären Gründen der gesunden Kolchos-Nutztiere mit Brucellose und Tuberkulose. Das Ziel seiner Aktivitäten – Zusammenbruch der Kolchose und Auferstehung des Kapitalismus in der UdSSR. Gibt seine Schuld nich zu, die wird jedoch von den Komplizen- und Zeugenaussagen bestätigt. Redner: Genosse KOWGAN | GETERLE Iwan Pawlowitsch [HETTERLE Johann] ERSCHIEßEN |

Wie man der unten angefügten Bescheinigung – ausgestellt am 28. November 1953 (nach Stalins Tod) – entnehmen kann, hatte Johann Hetterle nach der Urteilsverkündung nur noch drei Tage zu leben …
Über sein Schicksal erfuhr die Familie erst 1989.
Bescheinigung über die Hinrichtung
(Übersetzung und Original)
Bescheinigung
Das Urteil über die Erschießung Geterle Iwan Pawlowitsch [Hetterle Johann] wurde vollstreckt in Omsk am 20. November 1937.
Ausgestellt: 28. November 1953.
Stadt Omsk

Mehr zum Thema in diesen Blogartikeln: Mein Großvater und Mischas Verbrechen
Sehr schlimm, traurig, menschenunwürdig!!
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Ja, und für viele unvorstellbar. Ich hoffe, so etwas passiert nie wieder.
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Jeder von uns kann jeden Tag seinen Beitrag dazu leisten, Unmenschlichkeit und Hass etwas entgegenzusetzen. Daran glaube ich ganz fest- 🙂
VVN
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Daran glaube ich auch. 👍🏻
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Entsetzlich!
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Ja, meine Großeltern und Eltern haben viel Grauenvolles erlebt.
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An dieser Stelle sei (erneut) gesagt, dass „Liken“ bei Weitem nicht immer gleichzusetzen ist mit: „Gefällt mir“- 😯
In diesem Fall bedeutet es: „Sehr viel Anteilnahme von meiner Seite.“
VVN
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Ja, genauso verstehe ich die Likes auch 🙂 Danke dir! 💕
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Hab Dich auch gelesen und mein „gefällt“-button ist auch anteilmäßig gemeint
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Ich danke Dir! ❤️
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Das ist grausam. Mein ganzes Mitgefühl für dich und deine Familie.
leider ist es ja so, dass auch die Nachgeborenen gewissen Familientraumen weitertragen, meist sehr unbewusst. So wünsche ich dir heute, dass du frei von diesem Trauma wirst oder schon bist.
Herzliche Grüße
Ulli
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Danke dir! Mit Sicherheit ist dieses Familientrauma auch ein Teil meiner Depression, mit der ich seit meiner Kindheit zu kämpfen habe. Heute noch geht mir das, was in diesen unfassbar grauenhaften Zeiten geschah, sehr nah. Ich hoffe nur, dass mein Heimatland nicht wieder in den Abgrund rutscht. Noch sieht es für die Menschen dort nicht besonders gut aus – leider…
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Schrecklich, das klingt nach mittelalterlicher Lynchjustiz: der Angeklagte wird für vogelfrei erklärt und man verlässt sich auf die „Mitarbeit“ aller Bürger
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Lynchjustiz nicht, aber Menschenverachtung, Menschenvernichtung, Terror (ich könnte noch viele andere Bezeichnungen dazufügen: Zwangsarbeit, Justizwillkür, Mord, Gewalt, Folter …) auf staatlichem Niveau. Es ist heute für die meisten Menschen unvorstellbar, aber es war alles noch viel schlimmer.
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Es gab fürchterliche Verbrechen in diesen Jahren.
Danke Rosa für diese Einblicke.
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Danke auch! ❤️ Ich kann nicht behaupten, dass ich es gern gemacht habe – diesen Artikel zu schreiben, – aber wir, und die nächsten Generationen auch, dürfen so etwas nie vergessen.
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Was alles zwischen diesen bürokratischen Zeilen steckt! Was für ein Drama.
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Wir wissen ja, wie viele Familien es damals traf, wie viele Dramen es waren … Millionen.
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Es ist unfassbar, kaum vorstellbar, welche Gräuel sich hinter so ein paar kargen Worten verstecken. Es ist noch gar nicht allzu lange her, erst ein Menschenleben, und doch so unfassbar für die heutige Zeit in Freiheit und Wohlstand. Solche Traumata sitzen noch lange in den nachfolgenden Generationen fest. Ich glaube auch, dass deine Depression ihren Ursprung dort hat.
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❤️❤️❤️
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ich habe dir erschüttert ein sternchen für diesen bericht gegeben, unfassbar …
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❤❤❤
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