Kurzgeschichte
Noch ehe David die Augen öffnet, weiß er – es wird ein herrlicher Tag. Er hört draußen im Garten die Vögel zwitschern und spürt die warmen Sonnenstrahlen auf der Nase. Seinem Gefühl nach muss es schon ziemlich spät am Morgen sein. Eigentlich ist er ein Frühaufsteher, aber heute – am Sonntag – darf er natürlich lange schlafen. David lächelt, reckt sich ausgiebig und springt aus dem Bett. Ein Blick auf die Uhr bestätigt seinen Verdacht – es ist kurz vor zehn.
David öffnet das Fenster und schaut zum Himmel empor. Ein eigenartiges Gefühl überkommt ihn, verflüchtigt sich jedoch, ehe er es deuten kann, und zufrieden stellt er fest, dass kein einziges Wölkchen da oben zu sehen ist. Nichts wird heute seinen Ausflug mit den Freunden zum See trüben.
Nach dem Frühstück steigt David in seinen Mini, auf den er sehr stolz ist, obwohl der schon ein paar Jährchen auf den Rädern hat. Es ist sein erstes Auto, zum größten Teil von in Ferienjobs verdientem Geld gekauft. David überprüft, ob sein nagelneuer Führerschein wirklich noch in der Brieftasche steckt und fährt los – Richtung Freunde und Vergnügen.
Bis zur Innenstadt hat er freie Fahrt. „Ein gutes Zeichen für die kommenden Stunden“, denkt er.
Erst an der großen Kreuzung muss er vor der Ampel halten. Was soll’s – man kann nicht alles haben. Wie gebannt starrt David auf das warnend leuchtende, ziemlich eingestaubte gläserne Auge …
Ungeduldiges Hupen reißt ihn aus seinem Traumzustand – die Farbe hat gewechselt! Er kann weiterfahren.
Aber was war da gerade mit der Ampel geschehen? Irgendetwas hatte ihn stutzig und unruhig gemacht. Diesem Gefühl musste er unbedingt nachgehen, und zwar gleich.
David mag keine Unstimmigkeiten. Er ist für klare Verhältnisse und bemüht sich, Missverständnisse stets unverzüglich aus dem Weg zu räumen. Dieses Bestreben beeinflusst sein ganzes Tun. Er ist kein Perfektionist, erledigt die ihm zugeteilten Aufgaben jedoch in dem Wissen, dass die Ergebnisse sich sehen lassen können. Bei Problemen gibt er nicht auf und findet meist die richtige Lösung.
Er fährt also nur noch über die Kreuzung und hält nach wenigen Metern am Straßenrand an. Im Rückspiegel erkennt er die Ampel. Sie steht auf … hm! … sie zeigt, dass man warten muss! Mit Bestürzung gesteht David sich ein, dass er nicht mehr weiß, wie die Farbe heißt, die als Warnsignal dient. Blut sieht so aus … und der Blumenstrauß, den die hübsche junge Frau dort am Kircheneingang in der Hand hält. Wie heißen die Blumen nur? Trotz aller Anstrengung kann David sich nicht an deren Namen erinnern, glaubt aber zu wissen, dass er auch einen Farbton enthält.
Heftig schüttelt er den Kopf. Was ist nur los mit ihm?
Er steigt aus dem Wagen und mustert aufmerksam die Umgebung. Die Welt ist wie immer. Nichts hat sich verändert. Auch die Farben sind alle vorhanden und deutlich erkennbar. Dennoch kann David keine einzige benennen, beim besten Willen nicht. Ist er vielleicht krank? Hat er so eine Art Amnesie? Aber warum betrifft es nur die Farben? So etwas hat er noch nie gehört!
Plötzlich verspürt er keine Lust mehr, zum See zu fahren. Er setzt sich ins Auto und wendet.
Zu Hause lässt er sich in seinem Zimmer in den Sessel fallen und grübelt: Er ist doch ein guter Redner und Erzähler! Die Lehrer bewunderten ihn immer wegen der Fähigkeit, eine Geschichte so bildhaft und wortreich wiederzugeben – oder auch zu erfinden – dass sie jeden in ihren Bann zog. Und nun sitzt er hier und sucht vergeblich nach den aus seinem Hirn verschwundenen Farbbegriffen. Das darf doch nicht wahr sein!
Ist etwas in seinem Kopf durcheinandergeraten? Und vor allem: Wie könnte es ihm gelingen, die fehlenden Erinnerungen zurückzuholen?
Es gäbe natürlich eine äußerst einfache Methode, die vergessenen Begriffe zu erfahren: Er müsste nur das Internet nutzen oder ein Lexikon aufschlagen.
Aber das widerstrebt David. Er will aus eigener Kraft sein Gedächtnis wiederherstellen. Ihm kommt eine Idee, die ihn zwingt, sofort aufzuspringen. Fieberhaft beginnt er, die Schubladen seines Schreibtisches zu durchwühlen und findet das Gesuchte schließlich zwischen allerlei Kleinkram – eine Schachtel mit Stiften, die seine sechsjährige Nichte bei ihm vergessen hat.
David breitet die Stifte auf dem Tisch aus und starrt sie erwartungsvoll an. Aber das einzige Wort, das ihm einfällt, ist ‚bunt‘. Er atmet tief durch, holt ein Blatt Papier aus dem Druckerfach und nimmt einen Stift in die Hand. Dies ist … die Farbe des Himmels. Also dann!
Er malt einen breiten Streifen in der oberen Hälfte des Blattes. Der so entstandene Himmel verrät ihm jedoch seine Farbe nicht.
Der zweite Stift … Aha! Das sind das Blut, das warnende Ampelauge, die Blumen und … der Stern, das Symbol der ehemaligen Sowjetunion. David lächelt und malt einen großen fünfzackigen Stern, den er auf einen Turm setzt. Für den Turm benutzt er den dunkelsten Stift, den es gibt. Diese Farbe erinnert ihn an die Nacht, an Trauer und an das Auto des Nachbarn. Wie heißt sie aber? Er hat nicht die leiseste Ahnung.
Den vierten Stift verwendet David ohne Zögern für die Wiese, obwohl die eigentlich etwas heller sein sollte, und malt dann noch einen Tannenbaum.
„Der Baum weiß sicher genau, welche Farbe seine Nadeln haben“, denkt er ironisch. „Nur ich weiß es nicht.“
Vielleicht sagt ihm ja der nächste Stift etwas? Dessen Farbe erinnert ihn an die Haare der jungen Frau vor der Kirche. David zeichnet zuerst mit dem dunklen Stift die Konturen einer Gestalt, die allerdings wenig Ähnlichkeit mit einem weiblichen Wesen besitzt. Das ist jedoch egal. Wichtig sind ihm die wunderschönen lockigen Haare der Frau, die er mit einem etwas helleren Stift malt. So schön wie die echten sehen sie auf dem Papier allerdings nicht aus. David weiß sofort, woran es liegt. Ein ‚Schuss‘ von der Farbe des Sternes auf dem Turm fehlt … Ja, so ist es besser!
Noch ein Stift. Natürlich – die Sonnenfarbe! David malt den runden Ball mit langen Strahlen, wie er von Kindern auf der ganzen Welt dargestellt wird. Dann fügt er noch Blümchen auf der Wiese und eine große Sonnenblume neben der Frau mit den schönen, nicht zu dunklen Haaren hinzu … Perfekt!
Der letzte Stift. David dreht ihn sinnierend in den Fingern. Mit ihm weiß er nicht viel anzufangen. Auf dem Papier wird er kaum Spuren hinterlassen. Aber die Konturen eines Fensters in den dunklen Turm mit dem Stern einfügen – das müsste gehen.
David lehnt sich zurück und betrachtet seine Zeichnung eingehend. Nach wie vor fällt ihm kein einziger Begriff ein, wenn es um all diese Farben geht. Auch findet er es seltsam, dass sie so stumpf und leblos wirken. Sie besitzen weder Kraft noch Beredsamkeit: Sie sind stumm. „Ohne Seele“, geht es David durch den Sinn. Er kommt sich auf einmal äußerst kindisch vor. Wenn seine Freunde sähen, womit er sich hier beschäftigt, die lachten sich tot!
„Du bist bescheuert!“, schreit er sich selbst an, rafft mit einem Griff die Stifte zusammen und schleudert sie wütend gegen die Wand. Dann wirft er sich aufs Bett und schließt die Augen … und träumt …
Er steht barfuß auf einer Düne, vor ihm dehnt sich die Weite des Meeres. Langsam bewegt er sich vorwärts. Seine Füße sinken in die Wärme des feinen Sandes ein. Vorsichtig setzt er sich dicht am Wasser nieder. Das Panorama, das seine Blicke erfassen, verschlägt ihm den Atem: Die Sonne ist fast vollständig hinter dem Horizont verschwunden. Über ihm leuchtet der Himmel in einzigartiger Farbenpracht, besonders dort, wo die letzten Sonnenstrahlen ihn berühren. Das Ganze spiegelt sich im Wasser, das silbern schimmert und wie mit einem Schleier durchzogen erscheint. Himmel und Meer bilden eine harmonische Einheit. Die Grenze dazwischen ist kaum zu erkennen.
„Wie zwei Menschen, die sich lieben und verstehen, die dadurch eins sind“, flüstert David ein bisschen verlegen, denn noch nie sind ihm derart sentimentale Gedanken in den Sinn gekommen. Die Wellen plätschern leise und umspülen seine Füße …
David ahnt, dass er träumt, dass er sich reglos verhalten muss, um das Traumbild nicht zu zerstören. Ach, er möchte ewig hier sitzen und diese Farben bewundern. Und unversehens stellt er fest, dass er sie alle wieder benennen kann. Leise spricht er jede einzelne Farbe aus, spürt sie wie eine Köstlichkeit auf seiner Zunge.
Jede Farbe hat ein eigenes Aroma: Da ist Violett – samtig und ein wenig bitter, Grün mit dem Geschmack eines saftigen, süßsauren Apfels; Gelb schmeckt nach heißem Tee mit spritziger Zitrone und Braun nach Schokolade …
Nur allmählich bemerkt David, dass sich etwas um ihn verändert: Die Farben geraten in Bewegung. Sie verblassen langsam, bis auf Rot. Das wird immer dunkler und beginnt warnend zu blinken. Ein Ton kommt hinzu, wird immer lauter, schriller … bedrohlicher …
David weiß – jetzt ist sein wunderschöner Traum gleich vorbei. Tiefe Enttäuschung überkommt ihn. Er möchte das Traumbild nicht gehen lassen, noch nicht …
Das Telefon hört jedoch nicht auf zu klingeln und holt ihn gnadenlos und endgültig in die Wirklichkeit zurück.
Januar 2011
Schöne Idee ….
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Deine hübsche, ‚farbenfrohe‘ Geschichte beweist, wie unwichtig Bezeichnungen für Dinge und auch Menschen sind, im Vergleich zu dem, was wir bei ihrer Betrachtung (mit ALLEN Sinnen) fühlen und empfinden.🎨
Ich konnte ein wenig mit David mitfühlen, denn schon seit etlichen Jahrzehnten (jetzt altersbedingt etwas häufiger) habe ich leichte Wortfindungsstörungen, d.h. ein bestimmter Begriff ist plötzlich für kurze Zeit nicht abrufbar. Das fällt eher im Gespräch auf, denn beim Schreiben kann ich natürlich länger überlegen. Davids leichte Panik verstehe ich daher gut, denn meine bezieht sich auf die Furcht vor einer Demenzerkrankung, die ich innerfamiliär in allen Facetten miterlebt habe.
Danke für die gedankliche Inspiration, liebe Rosa!
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Danke für das Feedback, liebe Heather! 🌹
Wortfindungsstörungen … wem sagst Du das. Das kenne ich nur zu gut, ich hatte mich sogar schon testen lassen. Aber man hat mir gesagt – bei mir hängt das mit dem Erlebten (und lange Jahre erfolgreich verdrängten) in der Kindheit und mit der Depression zusammen. Bei Dir wird es wohl ähnlich sein. Also, vor Publikum einfach aus dem Stegreif zu reden ist so gar nicht meins. 😉
Herzliche Grüße
Rosa
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Danke, liebe Rosa, für die … äh, … äh … tröstenden … 😂 Worte!
Spaß beiseite, ich vermute, dass Du überdies auch (mindestens) zweisprachig aufgewachsen bist, vor allem, mit zwei Schriften! Da meine Mutter etwas russisch sprach (nach dem Krieg hat sie in einer russischen Automobilfirma in der DDR gearbeitet), interessierte ich mich ebenfalls für diese Sprache und besuchte ein Jahr lang (mit sinkendem Erfolg) eine Russisch-AG meiner Schule. Außer mageren Lesekünsten der kyrillischen Buchstaben, ist nichts mehr im Gedächtnis verblieben, aber ich bewundere Menschen, die zweisprachig so gut ‚unterwegs‘ sind, wie Du es ganz offensichtlich bist!
LG,
Heather
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Wenn Spaß beiseite 😉… dann ja – ich bin zweisprachig aufgewachsen, aber Deutsch, das wir zu Hause sprachen, ähnelte mehr einem Mischmasch aus Dialekt und russischen Wörtern dazwischen. Was die russische Sprache betrifft, darin war ich unschlagbar, und auch nach so vielen Jahren beherrsche ich die Schriftsprache immer noch einigermaßen gut, im Reden fehlt mir allerdings die tägliche Praxis. Deutsch zu schreiben (und zu reden) fällt mir leichter. 😃
Viele Grüße
Rosa
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Ach, und ich meine natürlich nicht, dass Deinen Wortfindungsstörungen auch ein Trauma zugrunde liegen muss, sondern – es kann sein, dass die Panikanfälle daran schuld sind. 🤔
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