Veröffentlicht in Persönliches, Träume

Der letzte Augenblick

Schon als Kind machte ich mir viele Gedanken über Leben und Tod, über den Kosmos überhaupt. Ich war meistens in meiner eigenen inneren Welt unterwegs (das nennt man wohl „In sich gekehrt“), hatte meine besonderen Tag- und Nachtträume, in die ich flüchten konnte. Das Leben war für mich so etwas wie ein ‚Muss‘. Was blieb mir anderes übrig? Ich war da, ich musste leben. Wo und wie sollte ich mich auch davor verstecken, außer vielleicht in meinen Fantasien? Ich war sogar felsenfest davon überzeugt, dass ich unsterblich bin. Ich und Sterben? Nie im Leben! Wie soll das denn gehen, wenn ich selbst doch die ganze Welt bin? … Es war ein einzigartiges Gefühl, ein Gefühl, das ich nicht einmal beschreiben konnte, sogar jetzt nicht beschreiben kann. Es war wie ein unerschütterliches Wissen, ein Naturgesetz, vielleicht sogar speziell für mich geschaffen.

„Der letzte Augenblick“ weiterlesen
Veröffentlicht in Menschsein, Persönliches, Träume

Traumwelt

Traurig bin ich. Der Sinn dieser von wem auch immer erschaffenen oder durch Zufall entstandenen Welt erschließt sich mir nicht. Die Menschen werden nie lernen, mit ihrem Planeten und miteinander behutsam und respektvoll umzugehen. Sie werden so weitermachen: mit Kriegen, Ausrottung, Zerstörung – bis zum bitteren Ende. Was ist unser Daseinszweck? Haben wir eine Bestimmung oder ist es alles nur Chaos? Sind wir Menschen wirklich die Krönung des Lebens? Oder sind wir hier, um alles und letztendlich uns selbst zu vernichten? … Ja, ich weiß – es sind rhetorische, sogar naive Fragen, die mir keiner beantworten kann. Auch wenn ich sie aus dem Kosmos auf die Erde hinab schreien könnte, würden sie unerwidert bleiben.

„Traumwelt“ weiterlesen
Veröffentlicht in Kurzgeschichten

Die Hölle – Teil 2

Kurzgeschichte

So verging der erste Tag ihrer Einsamkeit. Maja schlief in der Nacht wider Erwarten gut und fühlte sich am nächsten Morgen etwas entspannter, obwohl der rechte Fuß genauso schmerzte, wie zuvor und sich an ihrer Lage nichts geändert hatte. Sie war jetzt weniger mit dem Versuch beschäftigt, ihre Angst und Ungläubigkeit zu bändigen; sie richtete ihre Aufmerksamkeit mehr auf die Umgebung und deren eventuellen Veränderung, sah sich sehr genau die Wohnungsräume an, die Möbel, die Gegenstände und gewann tatsächlich das Gefühl, dass irgendetwas anders war.
War es ein bestimmter Blickwinkel? Ein geschärftes Wahrnehmungsvermögen? Ein besonderes Licht? Es kam Maja vor, als habe sich alles etwas verschoben, als sei das Tageslicht dunkler als sonst.

„Die Hölle – Teil 2“ weiterlesen
Veröffentlicht in Kurzgeschichten

Die Hölle – Teil 1

Kurzgeschichte

Zum Wortspiel: „Es war ein verdammter Sonntagvormittag wie immer – nur Luna war nicht da“.

Noch im Schlaf, aber wissend, dass sie träumt, spürte Maja die Panik wachsen. Sie musste sofort aufwachen, sie musste heraus aus diesem Traum, zurück in die Wirklichkeit, sonst war es zu spät. In einem verzweifelten Versuch sich zu befreien, schnappte sie nach Luft, schrie und riss die Augen auf …

„Die Hölle – Teil 1“ weiterlesen
Veröffentlicht in Kurzgeschichten

Schritte der Einsamkeit

Kurzgeschichte

Die Idee kam wie auf Flügeln daher, als habe der frische Wind, der heute durch die Stadt fegte, sie irgendwo aufgewirbelt und werfe sie jetzt mit anerkennendem Pfiff der verwunderten Frau direkt an die Stirn. Er zerzauste ihr das Haar, strich die Treppe empor und verschwand hinter dem Gebäude. Danach herrschte Stille.

„Schritte der Einsamkeit“ weiterlesen
Veröffentlicht in Kurzgeschichten

Phänomen

Kurzgeschichte

Noch ehe David die Augen öffnet, weiß er – es wird ein herrlicher Tag. Er hört draußen im Garten die Vögel zwitschern und spürt die warmen Sonnenstrahlen auf der Nase. Seinem Gefühl nach muss es schon ziemlich spät am Morgen sein. Eigentlich ist er ein Frühaufsteher, aber heute – am Sonntag – darf er natürlich lange schlafen. David lächelt, reckt sich ausgiebig und springt aus dem Bett. Ein Blick auf die Uhr bestätigt seinen Verdacht – es ist kurz vor zehn.

„Phänomen“ weiterlesen
Veröffentlicht in Menschsein, Persönliches, Träume

Vergebung

Die meisten meiner zahlreichen und bunten Träume lösen sich gleich nach dem Aufwachen wieder auf und geraten schnell in Vergessenheit. Manchmal aber erlebe ich im Traum etwas Außergewöhnliches, etwas, das mir Stoff zum Nachdenken gibt und mir für immer erhalten bleibt. So auch diesmal …

„Vergebung“ weiterlesen
Veröffentlicht in Elfchen, Persönliches

Menschen in meinem Leben

Elfchen

Elfchen über Menschen zu schreiben ist schwieriger als „normale“, habe ich für mich festgestellt. In elf Wörtern etwas über eine Person und die Beziehung zu ihr auszusagen – geht das überhaupt? Ich habe es versucht …

„Menschen in meinem Leben“ weiterlesen
Veröffentlicht in Brief, Persönliches, Träume

Was bleibt …

Nachtrag zu „Begegnung“

Aus dem Mailaustausch mit Tatjana Enns zum Blogartikel „Begegnung“.

Tatjana:
„Hallo liebe Rosa,
wow, wie wundervoll, dass Du solch lebendige, kraftvolle Bilder siehst bzw. träumst. Wenn du mich fragst, hat dein Unterbewusstsein dir auf alle Fälle eindeutige Botschaften geschickt. Die Interpretation von Lilli finde ich zutiefst faszinierend. Sie hat dazu ein Talent, wirklich!
Interessant ist zu lesen, dass du diese Sicht des Traumes zwar annehmen kannst, und dir dennoch dabei etwas zu fehlen scheint.
Man kann es natürlich, wie Lilli es schrieb, sehen. Etwas in mir sagt mir, dass du sicher weißt, dass du DEINEN ungeborenen Sohn gesehen hast. Dass er dir ein (einziges) und letztes Mal Lebewohl sagen wollte und dir zeigen wollte, dass nun alles gut ist. Dass es ihm drüben gut geht.
Was ich noch als Impuls gerade bekomme, ist … Es fühlt sich so an, als ob dein Sohn ohne Namen noch eine wichtige Botschaft für dich hat… die er dir noch überbringen möchte. Deshalb hat er gesagt, dass er bald wiederkommen wird oder auch nicht.
Man kann in Hypnose in die Vergangenheit reisen, ohne dabei an den schlimmen Gefühlen zu sterben. Doch diese alten, unverarbeiteten Gefühle möchten einfach nur nochmal gefühlt, gesehen und angenommen werden … So kann wirkliche Heilung geschehen. Meiner Meinung und Erfahrung nach der einzige Weg, seelische Wunden zu heilen. Dann kann auch in dir endlich alles heilen (Farbe Grün).
Ich kann dich bei diesem Prozess begleiten, das weißt du?
Das sind so meine Impulse dazu.“

Meine Antwort:
Liebe Tatjana,
danke für deine Deutung des Traumes. Die wahre Geschichte dazu („Das Geburtshaus“) kennst du ja aus meinem Buch. Spannend – Lillis Version und deine zusätzliche.
Was ich darüber denke … Ich glaube nicht, dass mein Kind, das sich seines Lebens noch gar nicht bewusst sein konnte, mir etwas sagen wollte. Es ist mein Unterbewusstsein, das mir auf diese Weise signalisiert: es ist alles gut, lass diesen Stein fallen, es ist nichts mehr zu ändern, schließe Frieden mit der Geschichte. Darin sind wir ja uns einig. Ob ich das kann, ist eine andere Frage. Daran zu denken macht mich immer noch traurig, aber das ist doch auch normal. Wie soll es denn gehen ohne Trauer? Aber dieser Traum hatte doch seine beruhigende Wirkung und ich kann damit leben. Es ist so, als ob mein ungeborener Sohn Gestalt angenommen, ein Gesicht bekommen hätte, und dieses Bild von ihm habe ich in meinem Herzen aufgenommen und kann es für immer behalten und bewahren. Vielleicht hätte er im Leben ganz anders ausgesehen, aber das ist unwichtig. Wichtig ist: so wie ich ihn gesehen habe, in seinem grünen Hemd, so bleibt er in meinem Herzen.🙂
Danke auch für dein Angebot. Ich weiß das zu schätzen, denke aber, dass dieser Weg nicht für mich geeignet ist.

Es ist alles gut so wie es ist. Und ich freue mich, dass ich so viele tolle Menschen um mich habe, da kann ich doch nur dankbar sein. Auch deine Freundschaft bedeutet mir viel …“

Webseite von Tatjana Enns: Glück – Entspannung – Gelassenheit

Bild von Astri Thea Rahmanita auf Pixabay
Bild von Astri Thea Rahmanita auf Pixabay

Veröffentlicht in Brief, Persönliches, Träume

Begegnung

Aus dem Mailaustausch mit meiner Nichte Lilli
(veröffentlicht mit ihrer Zustimmung)

Lilli hat mich Anfang des Jahres im Internet „entdeckt“ und angeschrieben. Seitdem stehen wir im engen Kontakt miteinander. Sie ist eine wunderbare, außergewöhnliche, sehr kreative Frau. Uns verbinden nicht bloß das Familiäre und die Vergangenheit, wir haben auch andere Gemeinsamkeiten. Dazu lasse ich nur ein Wort fallen: Schreiben …

„Begegnung“ weiterlesen
Veröffentlicht in Humor, Social Media

Weil ich es bin

Inspiriert von diesem herrlichen Bild, das sich hinter folgendem Link verbirgt:
Kathrin Köntopp, „Lotti auf Reisen“

Weil ich es bin

Ich wollt’ schon immer nach Paris.
Was ich nicht alles machen ließ!
Schicke Kleidung, neuen Hut …
Schaut doch mal – ist der nicht gut?

Ich brauchte Geld – Paris ist teuer.
Wie schwer das war, wie ungeheuer,
doch sparte ich ’ne Menge Holz.
Studierte Reiseführer, war so stolz!

Die Sprache fleißig lernte ich,
ich spreche jetzt perfekt Französisch.
Ich kaufte mir den größten Koffer,
und zählte dann die letzten Wochen.

Es war so weit. Ich konnte los,
mit Freude, die unendlich groß,
gespannt, vor Reisefieber glühend,
verpackt die Pfoten in den Schuhen.

So stand ich wartend auf den Zug.
Da kam er auch. Ich war so klug
und schob den Hut tief ins Gesicht.
Der Schaffner doch hat mich erwischt.

Er schrie und tobte: „Blöder Hund,
der Zug ist nicht für dich, und nun -
verschwinde! Nächste Station!“
und schubste mich aus dem Waggon.

Nun steh’ ich hier und frier’ im Wind,
vor Wut und Trauer fast schon blind.
Mein Traum zerplatzt, nur aus dem Grund,
weil ich es bin – ein armer Hund.

Veröffentlicht in Persönliches, Social Media

Kleine Spielereien mit dem neuen WordPress-Editor

Ausprobiert habe ich ihn ja schon – den Gutenberg-Editor – und einige meiner Beiträge bereits neu gestaltet. Leider funktioniert nicht alles so richtig. Ich hoffe, die Verbesserungen kommen noch. Es kann allerdings auch sein, dass mein WordPress Theme Scratchpad nicht gut für Gutenberg geeignet ist. Ich möchte aber kein anderes haben; ich mag Scratchpad, gerade weil es so farbenfroh und verspielt ist, und werde es auf keinen Fall gegen ein anderes Theme tauschen.
Das ist nun mein erster Absatz. Wie man merkt, können dafür Hintergrundfarben, Schriftfarben sowie ein großer Initialbuchstabe (der sieht jedoch im Editor viel hübscher aus als in der Besucher-Ansicht) gewählt werden. Natürlich ist es auch möglich – wie bisher – fett und kursiv zu schreiben oder einen Link einzufügen.

„Kleine Spielereien mit dem neuen WordPress-Editor“ weiterlesen
Veröffentlicht in Autobiografie, Literatur, Persönliches

„In der sibirischen Kälte“ – Buchausschnitt

Mamas Leichnam wurde zu Hause aufgebahrt, wie das so üblich war, und mit Eisbrocken umlegt. (Für diese Fälle und andere Notwendigkeiten gab es im Dorf einen Eisberg, im Winter hergestellt und im Sommer sorgfältig mit einem dicken Strohmantel bedeckt). Es war ebenso üblich, dass die Trauerfeier frühestens am dritten Tag nach dem Tod stattfand. Da es weder eine Kapelle noch eine Leichenhalle gab, mussten die Angehörigen bis dahin quasi mit dem Aufgebahrten unter einem Dach leben. Nachts überkam mich die Angst, und meine beste Freundin Frida gab mir Unterstützung, indem sie bei mir schlief. Tagsüber war ich meist abgelenkt, denn es gab viel zu tun. Menschen kamen und gingen – Familienmitglieder und Verwandte hielten abwechselnd die Totenwache.
Einmal war ich jedoch ganz allein zu Hause und mit Putzarbeiten beschäftigt. Auch im Zimmer, in dem der Sarg stand, musste der Boden gewischt werden. Ich fühlte mich sehr unwohl. Es war so kalt, so unheimlich still im Raum. Ich schaute meiner Mutter ins Gesicht und stellte mir plötzlich vor, dass sie die Augen öffnete …
Ob ich meine Arbeit noch zu Ende brachte, weiß ich nicht mehr, nur, dass ich nach draußen flüchtete, wo es warm war, die Sonne schien und die Vögel zwitscherten.
Wie gern hätte ich in diesen Tagen die Nähe meines Freundes gespürt, aber ich wusste – er war gerade bei seinen Eltern in Omsk und es gab keine Möglichkeit, ihm eine Nachricht zukommen zu lassen. Dennoch meinte es das Schicksal am Tag der Beerdigung gut mit mir. Ich sah auf einmal, wie er von der Straße in den Hof einbog, zögernd und besorgt angesichts der vielen Menschen. Er ahnte ja nicht, dass er mitten in eine Trauerfeier hineingeriet. Ich war sehr froh über seine Anwesenheit und ließ ihn nicht mehr von meiner Seite.
Als alles vorbei war, wollte ich unbedingt weg; weg vom Friedhofsgeruch, von meinen Geschwistern, von meinem Vater. Shenja und ich gingen aus dem Dorf in den nahen Wald. Ich empfand plötzlich eine enorme Erleichterung, sogar ein Glücksgefühl: Ich war frei! Frei für mein eigenes Leben, frei für die Zukunft, die ich von nun an selbst gestalten konnte. Gleichzeitig entsetzte mich, was ich fühlte. Wie kann ich nur so denken, wo Mama gerade erst begraben worden war! Ich musste doch traurig sein, sie vermissen! Ich weinte.
Es war das erste Mal, dass ich so hemmungslos vor einem anderen Menschen weinte. Alles brach aus mir heraus, die Anspannung der letzten Tage, die Verzweiflung, die Schuldgefühle. Mein Freund redete mir gut zu, dass es normal sei, wenn ich mich nach der Beerdigung erleichtert und sogar glücklich fühle, dass ich diese Gefühle zulassen dürfe, dass ich noch viel Zeit hätte, um zu trauern, dass mich überhaupt keine Schuld träfe. Sieben Jahre älter als ich, war er ein feinfühliger und kluger Mann und seine Worte hatten die Überzeugungskraft, die mich auf magische Weise beruhigte.
Ein Gewitter zog auf. Wir merkten es erst, als es anfing zu donnern. Unter den Birken fanden wir keinen Schutz und wurden völlig durchnässt. Aber der Regen tat mir gut. Er war wie ein erfrischender Zusatz zu meinen bitteren Tränen. Wie ein Abschluss. Es stimmte – ich hatte noch genug Zeit für die Trauer und für Schuldgefühle.
Ich frage mich heute – was bin ich meiner Mutter schuldig geblieben?
Die erste Zeit nach ihrem Tod quälten mich die Gedanken, dass ich nicht genug für sie getan hätte, dass ich es mir, als sie krank war – fern von ihr – hatte gut gehen lassen; dass ich sie zu wenig im Krankenhaus besucht hatte (sie weinte fast die ganze Zeit über und ich konnte das nicht ertragen). Im reiferen Alter machte ich mir Vorwürfe, dass ich nicht versucht hatte, mit meiner Mutter zu reden, sie zu verstehen, Anteil an ihren Gedanken und Sorgen zu nehmen.
Als mein Leben sich so drastisch wandelte, fragte ich mich oft, wie meine Mutter darauf reagiert hätte. Mir wurde schon einmal gesagt, dass sie sich im Grabe umdrehte, wüsste sie, welche Schande ich über die Familie bringe.
Im letzten Sommer hatte ich eine Phase, in der ich mich sehr intensiv mit diesem Thema beschäftigte. Wie so oft verfolgten mich meine Gedanken auch im Schlaf weiter. Und in einem Traum widerfuhr mir etwas ganz Besonderes: Meine Mutter und ich begegneten einander. Obwohl mir klar war – sie ist tot, war ich gleichzeitig sicher, dass sie gekommen ist, um sich mit mir auszusprechen. Nie zuvor hatte ich in der Realität ein so tiefes, warmes, schönes Gefühl der Nähe und Geborgenheit gespürt. Als ich aufwachte, hätte ich nicht wiedergeben können, was sie mir erzählte. Ich wusste nur, es war bewegend, und auch ich vertraute meiner Mutter alles an, was mir auf dem Herzen lag – alles. Das Wundervollste war – sie fühlte mit mir, sie verstand mich, nahm mich an, wie ich war. Dann tat sie etwas ganz Unerwartetes, was sie zu Lebzeiten nie über sich gebracht hatte … sie schloss mich in ihre Arme. Wir weinten beide und mit einem Mal wusste ich – Mama hat mich geliebt, immer. Sie hat uns alle geliebt. Alle sieben.

Februar 2012

Ida Schütz, geborene Hetterle
Ida Schütz, geborene Hetterle (ca. 1969)
Veröffentlicht in Autobiografie, Persönliches

Ein Tag von vielen

Es gibt Tage, an denen ich schon beim Aufwachen weiß – dieser wird nicht gut … Ich öffne die Augen und möchte sie am Liebsten wieder schließen und so diesem qualvollen Gefühl entfliehen, dem Gefühl, das man als Depression bezeichnet. Ich hasse dieses Wort – seit dem Augenblick, als ich begriffen habe, dass sie Teil meines Lebens ist. Aber es hilft nicht, der Hass schreckt die graue Hexe (wie ich sie oft selbst nenne) nicht ab und lässt sie nicht verschwinden.

Zum ersten Mal besuchte sie mich vor vielen, vielen Jahren – ich war noch ein Kind … und seitdem kommt sie immer wieder mal vorbei. Sie schleicht sich meistens schon nachts in meinen Schlaf und sobald ich wach bin, schlägt sie voll zu. Sie trampelt auf mir herum und raubt mir den Mut, die Kraft und die Freude. Gemein und hinterhältig sucht sie sich meine Schwächen heraus und setzt sie gegen mich ein. Das ist es ja, was sie doppelt so abscheulich macht – wenn sie einmarschiert, dann schleppt sie in ihrem Schatten, um Vielfaches vergrößert, alle meine Sorgen und wunden Punkte mit. Sie schüttet sie über meinen Kopf aus und grinst dabei: „Na, wie wirst du damit fertig?“

Den Tag zu beginnen ist eine Qual. Aber ich ignoriere sie. Ich versuche es zumindest! Ich bin ich, ich bin stärker! Ich stehe auf, ich lebe meinen Tag, Schritt für Schritt. Obwohl jeder Schritt einem Kampf gleicht, jeder Schritt mir Angst macht und manchmal eine enorme Überwindungskraft erfordert. Zum Glück – sage ich mir – zum Glück ist sie diesmal allein, ohne ihren Partner. Denn der … der ist noch viel grauenvoller. Der ist ein Monstrum unter Monstern. Sein Name ist Panik und er ist nur aufs Vernichten aus …

Wie an jedem unschönen Tag, der so anfängt, frage ich mich – was ist passiert, warum ist die Depression wieder da? Ich versuche mich zu erinnern, was ich geträumt habe … Obwohl ich immer viel und oft in allen Farben träume, sehe ich diesmal nichts außer einer leeren, dunklen Wand. Ich begreife (natürlich tue ich das, ich habe schließlich reichlich Erfahrung mit meiner Psyche) – mein Schutzschild hat sich eingeschaltet und ganze Arbeit geleistet, hat den Pinsel genommen und die Bilder, die ich vergessen sollte, die ich nicht mehr sehen durfte, mit schwarzer Farbe übermalt. Nur den Schmerz und die schon entstandenen Gefühle, die letztendlich die graue Hexe  herbei lockten, die konnte er nicht wegwischen. Wie auch? …

Der Abend naht und mit ihm kommt die Erleichterung. Das Ungeheuer lässt von mir ab … Wie gut, dass ich nicht allein bin, dass ich jemanden an meiner Seite habe, der mich nicht fallen lässt, mit dem ich reden kann und der immer für mich da ist … Wie gut, dass es Musik gibt, die ich in solchen Momenten hören kann, die mit meinen inneren Saiten im Einklang ist, die sich wie Balsam um meine Seele legt und den Schmerz lindert.

Es ist überstanden. Wieder einmal.

Zum Thema Panik: https://www.rosa-andersrum.de/nachdenkliches/gefangen/