Veröffentlicht in Menschsein, Persönliches, Träume

Vergebung

Die meisten meiner zahlreichen und bunten Träume lösen sich gleich nach dem Aufwachen wieder auf und geraten schnell in Vergessenheit. Manchmal aber erlebe ich im Traum etwas Außergewöhnliches, etwas, das mir Stoff zum Nachdenken gibt und mir für immer erhalten bleibt. So auch diesmal …

Ein Familientreffen findet statt.
Meine Geschwister unterhalten sich, scherzen und lachen unbekümmert. Nur mein Bruder und ich sitzen uns schweigend gegenüber. Er schaut mich gequält an, senkt den Blick, sieht wieder zu mir herüber … Ich merke – er will mir etwas sagen, traut sich aber nicht. Einem Impuls folgend, reiche ich ihm die Hand – mit den Worten: „Was du mir angetan hast, ist unverzeihlich! Aber ich weiß, dass es dir leid tut.“ Weinend hämmere ich mit den Fäusten auf ihn ein. Um uns herum hört das Geplauder abrupt auf, Stille tritt ein … Ich sehe Tränen in seinen Augen … „Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und alles ungeschehen machen. Aber das kann ich nicht mehr. Vergib mir!“ Er umarmt mich und wir weinen beide …

Ich denke, dieser Traum hat eine tiefere Bedeutung. Er will mir etwas vermitteln, das ich eigentlich selbst schon eine ganze Weile im Inneren spüre: Lass die Vergangenheit ruhen. Die Art, wie du damit umgegangen bist, wie du alles verkraftet und verarbeitet hast, war die einzig richtige. Es war dein ganz persönlicher Weg, um dich von dieser schweren Last zu befreien, und nun hast du es geschafft. Du kannst deinem Bruder vergeben und Frieden mit ihm und dem, was war, schließen.

Ich muss aber auch gestehen – einen großen Teil zu dieser Erkenntnis hat meine Nichte beigetragen. Ihr verdanke ich, dass ich meinen Bruder und ihren Vater aus einem anderen Blickwinkel und nicht nur das Negative in ihm sehen konnte. Hätte sie nicht mit mir Kontakt aufgenommen, hätte sie nicht mit so viel Verständnis und Liebe reagiert, hätte sie mir nicht von ihm erzählt, wäre mir das wohl nicht gelungen. Dafür und dass sie mein Leben bereichert hat, bin ich ihr unendlich dankbar.

Möglicherweise schickt mir mein Traum auch noch ein weiteres, gewichtiges Zeichen. Die Familienmitglieder sind ja dabei gewesen, haben alles mitbekommen und so auch mir Glauben schenken können. Vielleicht tut es denjenigen von ihnen, die mich der Lüge bezichtigt und verstoßen haben, inzwischen ebenso leid? Aber ihnen als erste die Hand zu reichen bin ich nicht bereit! Sie leben noch, sie können immer noch ihren Verstand nutzen, ihr Fehlverhalten zugeben und versuchen, es wiedergutzumachen. Wenn sie diese Sache nicht bereinigen wollen, dann bleibt es eben so – bis ans Ende ihrer und meiner Tage.

Autor:

Geboren bin ich 1954 in einem deutschen Dorf in Westsibirien (Gebiet Omsk), lebe seit 1992 in Deutschland. Nach 18 Jahren Bibliotheksarbeit in Omsk und 20 Jahren in der Stadtbücherei Lüdenscheid bin ich nun seit Dezember 2019 Rentnerin. Ich schreibe gern für meine Blogs und für die Homepage. Es gibt zwei Buchveröffentlichungen von mir: "In der sibirischen Kälte" und "Andersrum". Einige meiner Texte sind auch als eBooks im Internet frei zugänglich.

7 Kommentare zu „Vergebung

  1. Das zeigt mal wieder, wie hilfreich Träume beim Verarbeiten von Traumen sein können. Durch das Träumen möchte die Seele uns etwas sagen und da die Seele nur in Bildern spricht, wie der Mensch, bevor es eine ausgeprägte Sprache gab, nur in Bildern dachte, könnte jeder Traum ein Bild sein, ein Gleichnis, das manchmal schwer zu entschlüsseln ist, weil der Schlüssel ja auch wieder in der Seele liegt. Und der Schlüssel ist immer der, der in unseren Gefühlen liegt. Wir haben weitgehend den tierischen Instinkt verloren und dennoch spüren wir, was richtig oder falsch ist und dabei will der Traum uns helfen. Man könnte auch sagen: Wir sind von einem beschützenden Element beseelt, das uns den Weg zeigt, wenn wir in uns hören. Manche nennen es Bauchgefühl, andere nennen es Emotion, wieder andere sprechen von Gott ..

    Wundervolle Traumgeschichte. Wieder gern gelesen.

    Genies den Abend, Sven 🙂

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  2. Träume sind Reparaturdienste der Seele. Man sieht ihr schlafend beim Verarbeiten aller Erlebnisse zu, aber es sind und bleiben schon im „Input“ subjektive Eindrücke. Was bedeutet, dass in Träumen selbst keine Lösung zu finden ist, die nicht schon längst in Dir ist. Erst der Verarbeitungsprozess, sofern man dazu bereit ist, vertreibt die Traumschleier und sorgt für den „Durchblick“. Genauso wie dieses wichtiges Bauchgefühl (seine Entstehung und seine Aufgabe hat sogar die Hirnforschung schon definiert) während des Wachzustands ganz entscheidend dazu beiträgt.

    Die gemeinsame Aufarbeitung mit Deiner lieben Nichte und vor allem Dein aktiver Kampf gegen die Dämonen der Vergangenheit, lassen Dich ein wenig Frieden finden. Ich wünsche Dir Kraft und Stärke, um Dich weiter von hilfreichen Träumen und Gefühlen auf dem Lebensweg führen zu lassen, auch wenn Du vermutlich nicht mit allen Trauma-Beteiligten der Familie Versöhnung erreichen kannst. Vergebung ist eine so große Geste – nicht jeder verdient sie!

    LG, Heather

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    1. Dem kann ich nur zustimmen. Der Traum – eine aktive, bildliche und emotionale Zusammenfassung meines Seelenzustands … Es ist wirklich so – seit geraumer Zeit schon fühle ich eine innere Ruhe, keinen Groll, keinen Schmerz mehr, wenn ich an meinen Bruder denke. Ein tiefes Bedauern – ja, denn er hat nicht nur mir sehr geschadet, sondern auch sich selbst. Das, was er getan hat, hat ihn sein Leben lang verfolgt und belastet. Jetzt hätte ich den Mut, mit ihm darüber zu reden, aber das ist nicht mehr möglich. Oder doch – der Traum hat es möglich gemacht. 🙂
      Liebe Grüße
      Rosa

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  3. Vielleicht heilen auch manche alte Wunden nur post mortem – kein Widerspruch, eher die Aussicht, dass der Tod nicht nur eine ‚endgültige‘ Seite hat. Für Deinen Bruder warst, nein, bist Du die Brücke, die aber nicht JEDEN tragen kann.

    Bezüglich der Trauerarbeit habe ich einmal gelernt, wie wichtig das wiederholte Erzählen über den Todesfall für die Angehörigen ist, um das traurige Erlebnis verarbeiten zu können – auch wenn es dabei jedes Mal neu schmerzt. Aber mit jeder Erzählung gibt die/der Trauernde ein Stück des eigenen Schmerzes mit und die Last wird allmählich leichter. Ich glaube, das trifft auf andere Verletzungen der Seele zu! Deshalb wünsche ich Dir viele offene Ohren um Dich herum, aber auch, dass Du so erzählbereit bleibst – für Dich, aber auch zur Ermutigung anderer in ähnlichen Situationen!

    LG und genieß´ den Feiertag,
    Heather

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    1. Danke Dir! Ich denke, so wie ich bin, so bleibe ich. 😉 Dieses Ventil – das Schreiben – brauche ich, lange genug habe ich geschwiegen und meine Last mit mir herumgetragen …
      Liebe Grüße
      Rosa

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