Kurzgeschichte
Der Tag fing gut an! Simon saß gerade bei der ersten Tasse Kaffee, als er den schon lange ersehnten Anruf erhielt. Der Anruf kam aus dem Theater, in dem er sich als Klarinettist beworben und auch schon vorgespielt hatte. Es war eine Zusage! Dass er sie gerade heute erhielt, hatte für ihn doppelte Bedeutung, denn an dem Tag hatte er vor einem Jahr Alina kennengelernt. Deshalb wollte er sie am Nachmittag zum Essen ausführen und hatte beim ‚Spanier‘ einen Tisch reservieren lassen. Danach hielt er eine weitere schöne Überraschung für sie bereit. Er hatte für Alina ein Musikstück komponiert, das er ihr zu Hause vorspielen wollte. Nicht der Hauch einer bösen Vorahnung, keine Spur von Unruhe trübten Simons Gemüt. Er war einfach nur glücklich.
Vor einem Jahr, als sie sich zum ersten Mal trafen, sah es noch ganz anders aus. Er hatte damals sogar überlegt, ihr zu sagen: ‚Es tut mir leid, aber aus uns wird nichts …‘
Alina kam ihm gehemmt und vor allem so uninteressiert vor. Aber er zögerte, seine Zweifel in Worte zu fassen und vereinbarte stattdessen ein weiteres Treffen. Wahrscheinlich hatte sein Instinkt ihn veranlasst, das Richtige zu tun.
Das zweite Date war das Gegenteil vom ersten. Sie hatten wohl beide etwas Zeit gebraucht, um ihre Unsicherheit zu überwinden und redeten nun schon viel ungezwungener miteinander; erzählten und lachten, lachten und erzählten und es fühlte sich gut an. Alina war überhaupt nicht gehemmt, zumindest nicht mehr im Umgang mit ihm, und schon gar nicht desinteressiert.
Es stellte sich heraus: Sie war nur ein Jahr jünger als Simon, der bereits siebenundzwanzig war. Mit ihrem kurzen, braunen Haar wirkte sie jedoch eher wie ein Junge, ein Junge mit wunderschönen Augen, die leuchtendem Bernstein glichen. Diese Augen hatten es ihm seither angetan … ihre zarte, weiche Stimme … ihr Humor … und ihre Klugheit.
Das Essen beim ‚Spanier‘ war ausgezeichnet. Sie tranken Wein, beichteten einander kleine, nicht immer harmlose Kinderstreiche, schmiedeten Zukunftspläne. Simon war kurz davor, Alina einen Heiratsantrag zu machen, zügelte sich jedoch gerade noch rechtzeitig. Nein, heute war nicht der passende Moment, wenn schon, dann musste er einen Verlobungsring dabeihaben. Aber er konnte nicht umhin, ihr zu sagen, was sein Herz erfüllte, nahm ihre Hand, schaute ihr in die Augen und verkündete feierlich: „Weißt du, Alina, du bist wie ein Engel, der mir vom Himmel zugeflogen kam. Wie konnte ich nur ohne dich leben? Ich liebe dich so sehr. Ich hätte nie geglaubt, dass mir eine Frau so viel bedeuten könnte! Niemals werde ich dich verlassen.“
Alina war gerührt, warnte jedoch lächelnd: „Versprich nicht zu viel, Simon. Das Leben ist lang, es kann alles Mögliche passieren. Aber ‚Engel‘ gefällt mir. Dass ich dir viel bedeute … das macht mich glücklich, solange du mich nicht als dein Eigentum betrachtest.“ Sie wurde unversehens ernst und schaute ihn beunruhigt an. „Das tust du doch nicht, oder?“
„Oh nein, nein! Du kannst fliegen, wohin du willst, nur nicht weit weg von mir. Du bist frei … frei wie ein Engel.“ Beide lachten.
Auf dem Heimweg, als sie schon den halben Weg zurückgelegt hatten, sah Alina die alte Kneipe, die eine Zeit lang geschlossen hatte und erst neulich wieder eröffnet worden war. Sie überredete Simon, mit ihr hineinzugehen, obwohl er dazu keine Lust verspürte.
In der Kneipe herrschte Halbdunkel. Angenehmerweise spielte die Musik nicht so laut wie sonst allgemein üblich. Es gab sogar einen Kamin, in dem ein Feuer knisterte.
Sie setzten sich an einen kleinen Tisch in der Ecke.
„Gemütlich ist es hier geworden.“ Alina sah sich um. Es waren nicht viele Tische besetzt, einige Gäste saßen an der Bar. Simon bestellte für Alina ein Glas Rotwein und für sich eine Cola. Während sie auf die Getränke warteten, wanderte Alinas Blick im Raum umher und blieb schließlich am Tisch nebenan hängen. Eine elegante Frau um die dreißig und ein älterer Mann mit ergrautem Haar saßen dort. Es schien, als seien sie einander fremd. Die Frau nippte sichtlich nervös an ihrem Weißwein, der Mann hielt den Kopf gesenkt und kritzelte mit einem Stift auf der Serviette herum.
„Was meinst du, wer sind die zwei?“, fragte Alina leise.
Simon lächelte. „Die Frage kannst du selbst doch besser beantworten. Versuchs – ich bin gespannt!“
Es war Alinas Stärke, durch das Äußere, das Benehmen, die Kleidung, die Sprache und viele andere Merkmale, Rückschlüsse auf den Charakter eines Menschen zu ziehen. Es schien, als male sie ein Porträt. Oft genug erwies sich, dass sie ins Schwarze getroffen hatte, sofern sich die Gelegenheit ergab, die Eigenschaften der betreffenden Person mit Alinas Beobachtungen und Vermutungen zu vergleichen.
„Die Frau ist hübsch, fast knabenhaft“, begann Alina nachdenklich. „Allerdings ist sie nicht mehr so jung wie sie aussieht. Der Mann und sie kennen sich entweder gar nicht oder erst sehr kurze Zeit. Jedenfalls fühlt sie sich unwohl neben ihm, vielleicht überlegt sie sogar, die Flucht zu ergreifen.“ Alinas Blick wurde kritisch und sie fügte verunsichert hinzu: „Mir fällt gerade auf … findest du nicht auch, dass die Frau mir ähnelt?“
„Ja, tatsächlich – die gleichen Haare, die gleichen Augen. Aber du bist trotzdem die Schönste im ganzen Land“, neckte Simon. „Und was denkst du über den Mann?“
„Ich weiß nicht.“ Alina hob die Schultern. „Ich kann seine Augen nicht sehen. Und was macht er da nur mit der Serviette?“
In diesem Moment hob der Mann den Kopf und blickte Alina unverwandt in die Augen. Kälte überrieselte sie. Ihr Gesicht wurde blass.
„Ist etwas nicht in Ordnung?“, fragte Simon, der diese Veränderung bemerkte.
Alina flüsterte: „Ich möchte gehen. Komm, es ist schon spät und dieser Typ … der gefällt mir nicht.“
Simon fixierte den Fremden am Nebentisch. Wirklich – er starrte Alina an! Dann richtete er seinen Blick auf Simon, der plötzlich ein heißes Kribbeln im Nacken spürte. Sein Herz klopfte sprunghaft. Etwas unerklärlich Furchteinflößendes lag im Blick dieses Mannes, in seinen Augen. Sie brannten regelrecht. Simon glaubte sogar, die lodernden Flammen sehen zu können. Aber vielleicht war es auch nur das Kaminfeuer, das sich in ihnen spiegelte.
Er zwang sich zur Sachlichkeit, wandte sich Alina zu, um ihr zu sagen, dass sie nicht bleiben müssten. Aber das schaffte er nicht mehr.
Was im nächsten Moment geschah, ereignete sich in rasendem Tempo. Er hörte einen merkwürdigen Knall, sah, wie sich ein roter Fleck auf Alinas weißer Bluse bildete; wunderte sich, wie das möglich sein sollte, wenn der bestellte Rotwein noch gar nicht gebracht worden war; begriff gleich darauf, dass es nicht Wein, sondern Blut war; registrierte, dass Alina vom Stuhl rutschte und zu Boden sank, verstand dennoch nicht, was das bedeutete … schaute in die Richtung, aus der das Geräusch kam …
Der Fremde war verschwunden.
Fortsetzung folgt …