Kurzgeschichte
Erst im Nachhinein vermochte Simon die Dinge einander richtig zuzuordnen, denn ‚wie in Zeitlupe‘ war das Geschehen nicht abgelaufen! Nichts entsprach diesem Klischee und nur eins blieb grausame und unumstößliche Tatsache: Alina ist vor seinen Augen erschossen worden.
Nach Alinas Tod fand Simon tagtäglich nur mit großer Mühe aus den Qualen seiner Alpträume in die Wirklichkeit zurück, die keinesfalls besser war.
Auch der heutige Morgen war wiederum so trüb wie seine Gedanken, die sich ständig in der eingefahrenen Richtung bewegten: Warum musste er mit Alina unbedingt in diese verdammte Kneipe einkehren?
Das Telefon klingelte und riss ihn aus dem Nebel seiner Grübeleien. Inspektor Reimer von der Mordkommission kündigte seinen Besuch an. Es gäbe Neuigkeiten, sagte er. Sie hätten den Mörder verhaftet.
Simon war es egal. Alina war tot. Und tot blieb tot. Aber er erklärte sich mit dem Besuch einverstanden.
Der Inspektor berichtete: „Wir haben den Mann und sein Geständnis auch.“ Er schaute Simon mitfühlend an. „Es wird nicht leicht für Sie, die Wahrheit zu verkraften, aber ich kann sie Ihnen auch nicht vorenthalten.“
Simon schwieg.
„Wir waren anfangs ratlos, was das Motiv dieser Tat betraf, aber dann lieferte uns die Serviette den entscheidenden Hinweis.“
Irritiert schaute Simon den Inspektor an.
Der erklärte: „Sie hatten doch ausgesagt, dass der Mann am Nebentisch etwas auf eine Serviette kritzelte. Wir stellten fest, dass es sich bei der Kritzelei immer um ein und dieselbe Zahl handelte, um die 53; in der Mitte der Serviette waren drei Kreuze ausgeführt.
Nun zerbrachen wir uns den Kopf über die Bedeutung von Zahl und Zeichen. Dann kam ich auf die Idee, die Zahl könnte für einen Geburtstag stehen, in diesem Fall den dreiundfünfzigsten. Und Kreuze sind schon immer ein Symbol für Todesfälle. Danach war es kein so großes Problem mehr herauszufinden, welcher ältere Mann aus der Umgebung, auf den Ihre Beschreibung passte, am Tag des Mordes Geburtstag hatte. Auch gab es beim Überprüfen der Akten zwei ungeklärte Morde aus den Jahren zuvor, die ebenfalls zu jenem Datum verübt wurden.
Wir verhafteten den Verdächtigen gestern Abend. Er gestand nicht nur den Mord an Ihrer Freundin, sondern auch die beiden anderen Morde.“
Simon lehnte mit verschränkten Armen an der Wand, den Blick zu Boden gesenkt. Reimer wartete auf eine Reaktion. Weil der junge Mann sich offensichtlich nicht äußern wollte, fuhr er fort: „Der Mörder gestand freiwillig. Vor drei Jahren, an seinem 50. Geburtstag, verließ ihn seine Frau Angelika. In einem Abschiedsbrief teilte sie ihrem Mann ironisch mit, ihr Verschwinden sei das Geschenk zu seinem Jubiläum. Sie habe ihn schon lange mit einem Jüngeren betrogen und sich entschlossen, mit diesem Mann ein neues Leben zu beginnen. Schließlich sei sie noch jung, wolle etwas vom Leben haben und nicht Tag für Tag die Nörgeleien und Gemeinheiten eines alten Griesgrams ertragen müssen. Peter Kranz – das ist der Name des Mörders – schwor, sich an seiner Frau zu rächen, aber er konnte sie nirgendwo finden. Sein Rachedurst hingegen wurde immer stärker, er war buchstäblich von ihm besessen. Schließlich kam er auf die kranke Idee, dass eine andere ‚Schlampe‘ anstelle seiner Frau für die erlittene Schmach büßen müsse, die Weiber seien ohnehin alle gleich. Gezielt suchte er sich per Internet-Anzeigen Frauen aus, die Angelika ähnlich sahen. Das erste Opfer tötete er an seinem 51. Geburtstag und betrachtete dies als sein Geburtstagsgeschenk.“
Diesmal starrte Simon den Kommissar ungläubig an. „Geburtstagsgeschenk? Meine Alina ist tot, weil ein Verrückter sich zur Feier des Tages einen Mord gönnte?“ Seine Stimme brach.
Reimer sagte, was er in einem Mordfall immer verlauten ließ und was keinesfalls den Tatsachen entsprach: „Ich kann verstehen, wie Sie sich fühlen.“ Dann fuhr er eilig fort: „Ehe Sie sich nun noch Gedanken darüber machen, ob Ihre Freundin im Internet Männerbekanntschaften knüpfte – dies war nicht der Fall. Sie wurde ermordet, weil sie Angelika ähnlicher sah als die Frau, mit der Kranz sich gerade in dieser Kneipe traf. Er gab zu, dass er beim Anblick der Frau am Nebentisch die Kontrolle verlor und schoss. Ihre Freundin war leider zur falschen Zeit am falschen Ort. Das eigentliche Mordopfer kam mit dem Schrecken davon, doch dies verkleinert das Unglück nicht.“
Simon steht an Alinas Grab. Ihn plagen Schuldgefühle. Er weiß, sie werden ihn nie wieder loslassen. Wenn er doch nur nicht nachgegeben, auf Alina nicht gehört hätte, dann wäre sie jetzt noch am Leben!
In Gedanken versucht er, die Zeit zurückzudrehen, sie erneut von vorn laufen zu lassen. Er spielt die korrigierte Szenerie immer wieder durch, sieht sich und Alina an der Kneipe vorbeigehen … vorbeigehen … vorbeigehen …
Warum haben sie es nicht getan?
Diese Gedanken sind unerträglich, machen Simon wahnsinnig. Vor seinem inneren Auge sieht er Alina und fleht sie an, ihm zu verzeihen.
Er merkt nicht, dass er laut spricht. „Es tut mir so unendlich leid, mein Engel. Ich habe zu verantworten, dass du hier begraben liegst, obwohl ich dir versprach, dich zu beschützen, dich niemals zu verlassen. Ich habe mein Wort nicht gehalten. Du bist tot und ich … ich lebe … aber ich weiß nicht, wie das gehen soll! Ich schaffe es nicht ohne dich!“
Simon vergräbt sein Gesicht in den Händen.
Schuldgefühle, Schmerz und Verzweiflung verbinden sich zu einem Gedanken: Zunächst flackert er nur unsicher wie eine kleine Flamme. Aber einmal vorhanden, genährt von Hass und Wut gegen den Mörder, wird sie schnell zum Feuer, das Simons Verstand gänzlich verbrennt. Plötzlich fühlt er Entschlossenheit: Was andere können, kann er auch. Wenn andere sich selbst einen Mord zum Geschenk machen – er kann es auch. Sogar viel besser!
Simon schaut zum Himmel empor.
„Ich weiß nicht, wo du jetzt bist, Alina“, sagt er leise. „Auf einem anderen Stern, in einer fremden Welt oder im Himmel. Aber ich verspreche dir, ich mache alles wieder gut. Wir werden vereint sein – du und ich. Für immer. Du musst nicht mehr lange warten. Nur noch drei Tage … dann habe auch ich Geburtstag.“
Die Andeutung eines Lächelns umspielt Simons Mundwinkel, sein Gesicht entspannt sich und seine Augen glühen.
Juni 2011