Veröffentlicht in Autobiografie, Menschsein, Persönliches

Von Umarmungen und anderen Herzlichkeiten

Es war nicht nur der Sprung in eine fremde Welt, es war das Eintauchen in eine andere Atmosphäre … damals, vor 25 Jahren. In eine wärmere Atmosphäre, sowohl im direkten als auch im übertragenen Sinne. Schon von dem Moment an, als wir das Areal der Lufthansa im Moskauer Flughafen Domodedowo betraten, spürte ich sie – die Veränderung. Im Flugzeug die Crew – lächelnd, einladend, hilfsbereit. Am Flughafen Frankfurt am Main – alles hell, ruhig, ohne Hektik. Die Gesichter der ersten Deutschen, denen ich begegnete, so ganz anders – entspannt, freundlich. Frei.

Nein, ich will nicht behaupten, dass alle Deutschen nur entspannt und freundlich sind und die Russen – gestresst und grimmig; später würde ich auch das Gegenteil sehen und kennenlernen. Dennoch werde ich gewöhnlich auf den ersten Blick erkennen können, wen ich vor mir habe – einen ‚waschechten‘ Deutschen oder jemanden, der aus Russland kommt. Irgendetwas unterscheidet sie. Der Blick, der Gesichtsausdruck, die Bewegungen, das Verhalten … Oder ist es die Unsicherheit, die immer wieder durchkommt, das ‚Auf der Lauer sein‘, ein Schatten der alten Angst? Ja, Russland färbt ab, sehr sogar, für immer und ewig sogar.
Wie steht es denn um mich selbst? Hat Russland auch bei mir seine Spuren hinterlassen? In einer Hinsicht ganz gewiss – meinen Akzent werde ich im Leben nicht mehr los. Ansonsten „erkennen“ mich meine Landsleute nur selten und sind meistens überrascht, wenn ich (zum Beispiel bei der Anmeldung in der Bücherei) plötzlich meine Sprachkenntnisse verrate. Und meine FreundInnen sagen: „Du bist ganz anders“. Nun – „anders“ bin ich ja sowieso. 😉
Aber klar – auch an mir ist das Leben im Sozialismus nicht spurlos vorbeigegangen. Dennoch war ich von Anfang an offen für das Unbekannte, das mich im fremden Land erwartete; ich wollte alles sehen, spüren, erleben und mitmachen. Ich wollte mittendrin sein, auch wenn ich (von klein auf) schüchtern und zurückhaltend bin und es überhaupt nicht mag, im Mittelpunkt zu stehen. Die Neugier, das Interesse, das ‚Dazu-gehören-wollen‘ waren meine Triebkraft.
Mein Mann und ich gingen am Anfang sogar in die Kirche. Das muss man sich mal vorstellen – ich und der liebe Gott! Uns ging es jedoch in erster Linie um Kontakte zu den Menschen, die uns, Neuankömmlinge, auch sehr herzlich empfingen. Meine Kirchenzeit war allerdings nicht von langer Dauer. Relativ schnell bekam ich das Gefühl, am falschen Ort zu sein und vor allem, nicht ehrlich zu sein, denn an Gott glaubte ich nach wie vor nicht. Als ich dann einer Frau, mit der wir uns angefreundet hatten, anvertraute, dass ich mich „anders“ fühle, und sie sich in dem Sinne äußerte, dass Gott so etwas gar nicht gutheißen kann, da war es mit meiner „Frömmigkeit“ endgültig vorbei.
Wenn ich jetzt fünf Schlagwörter für meine erste Zeit in Deutschland vergeben müsste, würde ich diese wählen: Freiheit, Menschlichkeit, Herzlichkeit, Wertschätzung und … immer wieder Staunen, auch auf die Gefahr hin, ausgelacht zu werden. (Aber seid vorsichtig, denn ihr – diejenigen, die in Deutschland geboren seid – wart nie in Russland und habt nie den Alltag dort gelebt).
Bis heute erinnere ich mich an eine kleine Episode, die mittlerweile normal und alltäglich ist, die mir damals unglaublich vorkam.
Wir hatten in den ersten Wochen und Monaten in Hemer viel zu erledigen. Erst einmal galt es – ganz wichtig! – herauszufinden, wie das mit den öffentlichen Verkehrsmitteln funktionierte (die richtigen Fahrkarten kaufen, einsteigen, aussteigen, sich mit Fahrplänen auseinandersetzen). Dann den Wohnsitz registrieren zu lassen, Stromanbieter zu finden, Vertriebenen-Ausweis zu beantragen. Das Gesundheitssystem kennenzulernen, sich für einen Hausarzt und einen Zahnarzt zu entscheiden. Schule für den Jüngsten zu wählen, zu besichtigen, ihn dort anzumelden … und so weiter, und so fort. Ganz zu schweigen, dass wir jede Menge für die Wohnung benötigten.
Aufregend waren auch die Geldangelegenheiten. Solange wir in den Aufnahmelagern waren, bekamen wir die Unterstützung bar ausgezahlt. Nach der Registrierung im Einwohnermeldeamt mussten wir uns jedoch um ein Bankkonto kümmern, denn ohne ging gar nichts. An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass wir uns nicht lange vom Staat versorgen ließen – schon nach wenigen Monaten fand mein Mann eine Arbeitsstelle, und da blieb er auch bis zu seinem Tod im April 2005. Bei mir dauerte es etwas länger, aber das ist eine andere Geschichte.
Ein Girokonto! So etwas gab es in Russland nicht. Ebenso wie EC-Karten und Geldautomaten.
Wir wählten die Sparkasse. Die Sache war im Nu erledigt und wir verließen das Gebäude im Besitz der nagelneuen, schönen, roten Bankkärtchen. Ein paar Tage später begegnete ich auf der Straße einem Mann, der mich freundlich anlächelte und grüßte: „Hallo, Frau Ananitschev!“. Es war der Sparkassen-Angestellte, der uns die erste, notwendige Einführung in die deutsche Finanzwelt gegeben hatte. Ich war sprachlos. Auch das gab es in Russland nicht! Die Menschen grüßten schon, aber nicht die Bankangestellten – auch wenn sie dich kannten. Einfach so – auf der Straße, im Vorbeigehen, mit einem Lächeln im Gesicht, dann noch namentlich? Ein Ding der Unmöglichkeit! In Russland gab es ungeschriebene Regeln. Hierarchien. Ja, im Kommunismus waren bei Weitem nicht alle Menschen gleich.
Ich war beeindruckt, nicht zuletzt, weil der Mann auch noch meinen Namen behalten und ihn sogar richtig ausgesprochen hatte. Es fühlte sich gut an.
Das folgende Erlebnis war für mich noch außergewöhnlicher. 1996 erhielt ich überraschenderweise eine Einladung zum Gespräch vom Kulturdezernenten meines Wohnortes. Ich war ratlos, was er denn von mir wollte.
Es ergab sich eine lockere, anregende Unterredung über meine Herkunft, über das neue Leben in Deutschland, über meine Zukunftspläne. (Dazu sei gesagt – die Hoffnung, in Deutschland eine Arbeit als Bibliothekarin zu bekommen, hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon fast aufgegeben). Zum Schluss versprach der Kulturdezernent, sobald sich eine Möglichkeit in meinem Beruf ergäbe, würde er auf mich zurückkommen.
Auf meine Frage, woher er eigentlich von mir wusste, antwortete der Mann schmunzelnd: „Nun, es spricht sich herum. Ich habe schon einiges von Ihnen gehört.“
Ich hackte nicht nach, ob er Gutes oder Schlechtes über mich erfahren hatte, dass es aber meinem Ego sehr schmeichelte, versteht sich von selbst.
Der Kulturdezernent hat sein Wort gehalten. 1998 bekam ich eine befristete Aushilfsstelle in der örtlichen Bücherei, nebenbei machte ich Übersetzungen für die Städtepartnerschaft Schelkowo-Hemer (es waren zahlreiche Briefe der ehemaligen russischen Kriegsgefangenen) – eine interessante und anspruchsvolle Aufgabe. Ich erhielt ein ausgezeichnetes Arbeitszeugnis, und als dann 1999 in der Stadtbücherei Lüdenscheid gleich zwei Stellen ausgeschrieben wurden, hatte dies unter anderem dazu geführt, dass ich eine Vollzeit-Stelle bekam. Diesen Anruf Anfang Februar 2000 und die Nachricht, dass ich die Stelle besetzen könne, habe ich jetzt noch klar in Erinnerung – es war das schönste Telefongespräch meines Lebens.
Die erste Freundschaft, die ich in Deutschland geschlossen habe, besteht bis heute. Das ist eine schöne Geschichte und vielleicht erzähle ich sie irgendwann vollständig. Diesmal nur so viel, und damit komme ich zu dem Begriff, der im Titel dieses Blogartikels angegeben ist, zu den Umarmungen.
Ich war ziemlich verwundert, als die neu gewonnene Freundin mich zum ersten Mal, zusätzlich zu dem üblichen Tschüss, umarmte … Sie merkte meine Verwirrung und lachte: „Das machen Freunde eben so, wenn sie sich treffen oder verabschieden.“ Das Problem war nur – ich kannte so eine nette Geste nicht. In meiner alten Heimat umarmten sich Menschen nicht einfach so, dazu musste es schon einen wichtigen Anlass geben. Und in meinem Elternhaus waren Umarmungen … sagen wir mal so – nicht populär. Auch nach langer Abwesenheit nicht, auch an Weihnachten oder bei sonstigen Feierlichkeiten nicht. Es war in unserer Familie  nicht üblich, Herzlichkeiten untereinander auszutauschen, so wie es nicht üblich war, zum Geburtstag zu gratulieren. Wie ich schon in meinem Buch geschrieben habe: „Wir sind in kühler Atmosphäre erzogen worden und in sibirischer Kälte aufgewachsen.“
Die Kindheit … Dort nimmt alles seinen Anfang, dort werden die Grundsteine für den Lebensweg gelegt, Charaktereigenschaften gebildet, Ängste gepflanzt, Ängste, die oft nur schwer auszurotten sind. Der Umgang in der Familie, das Miteinander – auch das färbt ab, schafft Verhaltensweisen, die später im Leben zu einem Hindernis werden können. 
Aber, verehrte Leserinnen und Leser, ihr merkt, worauf ich hinaus will.
Ja, ich habe viel dazugelernt, ich bin glücklich in meiner neuen Heimat, egal, wie viele persönliche Probleme ich hatte und noch habe, egal, wie stark Deutschland heute von anderen kritisiert wird. Für mich ist es das Land, in dem ich wirklich ICH sein kann, in dem ich Mensch bin.

Eines der ersten Fotos in Deutschland. Sommer 1993.

Autor:

Geboren bin ich 1954 in einem deutschen Dorf in Westsibirien (Gebiet Omsk), lebe seit 1992 in Deutschland. Nach 18 Jahren Bibliotheksarbeit in Omsk und 20 Jahren in der Stadtbücherei Lüdenscheid bin ich nun seit Dezember 2019 Rentnerin. Ich schreibe gern für meine Blogs und für die Homepage. Es gibt zwei Buchveröffentlichungen von mir: "In der sibirischen Kälte" und "Andersrum". Einige meiner Texte sind auch als eBooks im Internet frei zugänglich.

2 Kommentare zu „Von Umarmungen und anderen Herzlichkeiten

  1. Wieder einmal bin ich fasziniert liebe Rosa, ich lese gern bei dir. Du teilst deine Erfahrungen und ich staune oft. Dinge, die für mich selbstverständlich waren, waren für dich und deine Familie völlig neu. Herzlichkeit – ich musste lächeln, wir Norddeutsche sind nicht so herzlich. Wir sind oft stur, sperren die Türen ab. Klar sind wir gesellig, feiern gern, aber ein gewisses Misstrauen ist angeboren. Beim Umarmen musste ich an meine Kindheit denken. Das gab es nämlich bei uns auch nicht und ich habe diese freundliche Begrüßung erst kennen gelernt, als meine Kinder in der Schule waren. Die gingen damit sorglos um und ich habe festgestellt, dass es doch sehr einfach ist und dieser Akt der Freundlichkeit, der Zuneigung gut tut.
    Ich glaube, wir lernen jeden Tag hinzu. Was gestern noch schwer war, ist heute leichter. Ich sage Danke liebe Rosa und habe deinen Blog gern besucht. LG Geli

    Gefällt 1 Person

    1. Danke, liebe Geli!
      Ja, so empfand ich damals das Land meiner Vorfahren. Nicht nur ich, auch meine Kinder waren begeistert. Und mein Mann war richtig zornig … zornig, weil – seinen Worten nach – wir die ganze Zeit in Russland verarscht wurden, und noch viel schlimmer. Auch er, ein sehr kluger Mann, hatte sein eigenes Stichwort für Deutschland: Menschlichkeit.
      Diese Euphorie der ersten Zeit hat sich natürlich mittlerweile gelegt, in den Alltag verwandelt. Ich erlebe auch hier ab und zu Ungerechtes, bin enttäuscht und verärgert, aber immer wieder vergleiche ich auch – kann gar nicht anders – und sage mir selbst: „Was für ein Glück, dass du dem Albtraum entkommen bist!“

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