Veröffentlicht in Autobiografie, Literatur, Persönliches

„In der sibirischen Kälte“ – Buchausschnitt

Mamas Leichnam wurde zu Hause aufgebahrt, wie das so üblich war, und mit Eisbrocken umlegt. (Für diese Fälle und andere Notwendigkeiten gab es im Dorf einen Eisberg, im Winter hergestellt und im Sommer sorgfältig mit einem dicken Strohmantel bedeckt). Es war ebenso üblich, dass die Trauerfeier frühestens am dritten Tag nach dem Tod stattfand. Da es weder eine Kapelle noch eine Leichenhalle gab, mussten die Angehörigen bis dahin quasi mit dem Aufgebahrten unter einem Dach leben. Nachts überkam mich die Angst, und meine beste Freundin Frida gab mir Unterstützung, indem sie bei mir schlief. Tagsüber war ich meist abgelenkt, denn es gab viel zu tun. Menschen kamen und gingen – Familienmitglieder und Verwandte hielten abwechselnd die Totenwache.
Einmal war ich jedoch ganz allein zu Hause und mit Putzarbeiten beschäftigt. Auch im Zimmer, in dem der Sarg stand, musste der Boden gewischt werden. Ich fühlte mich sehr unwohl. Es war so kalt, so unheimlich still im Raum. Ich schaute meiner Mutter ins Gesicht und stellte mir plötzlich vor, dass sie die Augen öffnete …
Ob ich meine Arbeit noch zu Ende brachte, weiß ich nicht mehr, nur, dass ich nach draußen flüchtete, wo es warm war, die Sonne schien und die Vögel zwitscherten.
Wie gern hätte ich in diesen Tagen die Nähe meines Freundes gespürt, aber ich wusste – er war gerade bei seinen Eltern in Omsk und es gab keine Möglichkeit, ihm eine Nachricht zukommen zu lassen. Dennoch meinte es das Schicksal am Tag der Beerdigung gut mit mir. Ich sah auf einmal, wie er von der Straße in den Hof einbog, zögernd und besorgt angesichts der vielen Menschen. Er ahnte ja nicht, dass er mitten in eine Trauerfeier hineingeriet. Ich war sehr froh über seine Anwesenheit und ließ ihn nicht mehr von meiner Seite.
Als alles vorbei war, wollte ich unbedingt weg; weg vom Friedhofsgeruch, von meinen Geschwistern, von meinem Vater. Shenja und ich gingen aus dem Dorf in den nahen Wald. Ich empfand plötzlich eine enorme Erleichterung, sogar ein Glücksgefühl: Ich war frei! Frei für mein eigenes Leben, frei für die Zukunft, die ich von nun an selbst gestalten konnte. Gleichzeitig entsetzte mich, was ich fühlte. Wie kann ich nur so denken, wo Mama gerade erst begraben worden war! Ich musste doch traurig sein, sie vermissen! Ich weinte.
Es war das erste Mal, dass ich so hemmungslos vor einem anderen Menschen weinte. Alles brach aus mir heraus, die Anspannung der letzten Tage, die Verzweiflung, die Schuldgefühle. Mein Freund redete mir gut zu, dass es normal sei, wenn ich mich nach der Beerdigung erleichtert und sogar glücklich fühle, dass ich diese Gefühle zulassen dürfe, dass ich noch viel Zeit hätte, um zu trauern, dass mich überhaupt keine Schuld träfe. Sieben Jahre älter als ich, war er ein feinfühliger und kluger Mann und seine Worte hatten die Überzeugungskraft, die mich auf magische Weise beruhigte.
Ein Gewitter zog auf. Wir merkten es erst, als es anfing zu donnern. Unter den Birken fanden wir keinen Schutz und wurden völlig durchnässt. Aber der Regen tat mir gut. Er war wie ein erfrischender Zusatz zu meinen bitteren Tränen. Wie ein Abschluss. Es stimmte – ich hatte noch genug Zeit für die Trauer und für Schuldgefühle.
Ich frage mich heute – was bin ich meiner Mutter schuldig geblieben?
Die erste Zeit nach ihrem Tod quälten mich die Gedanken, dass ich nicht genug für sie getan hätte, dass ich es mir, als sie krank war – fern von ihr – hatte gut gehen lassen; dass ich sie zu wenig im Krankenhaus besucht hatte (sie weinte fast die ganze Zeit über und ich konnte das nicht ertragen). Im reiferen Alter machte ich mir Vorwürfe, dass ich nicht versucht hatte, mit meiner Mutter zu reden, sie zu verstehen, Anteil an ihren Gedanken und Sorgen zu nehmen.
Als mein Leben sich so drastisch wandelte, fragte ich mich oft, wie meine Mutter darauf reagiert hätte. Mir wurde schon einmal gesagt, dass sie sich im Grabe umdrehte, wüsste sie, welche Schande ich über die Familie bringe.
Im letzten Sommer hatte ich eine Phase, in der ich mich sehr intensiv mit diesem Thema beschäftigte. Wie so oft verfolgten mich meine Gedanken auch im Schlaf weiter. Und in einem Traum widerfuhr mir etwas ganz Besonderes: Meine Mutter und ich begegneten einander. Obwohl mir klar war – sie ist tot, war ich gleichzeitig sicher, dass sie gekommen ist, um sich mit mir auszusprechen. Nie zuvor hatte ich in der Realität ein so tiefes, warmes, schönes Gefühl der Nähe und Geborgenheit gespürt. Als ich aufwachte, hätte ich nicht wiedergeben können, was sie mir erzählte. Ich wusste nur, es war bewegend, und auch ich vertraute meiner Mutter alles an, was mir auf dem Herzen lag – alles. Das Wundervollste war – sie fühlte mit mir, sie verstand mich, nahm mich an, wie ich war. Dann tat sie etwas ganz Unerwartetes, was sie zu Lebzeiten nie über sich gebracht hatte … sie schloss mich in ihre Arme. Wir weinten beide und mit einem Mal wusste ich – Mama hat mich geliebt, immer. Sie hat uns alle geliebt. Alle sieben.

Februar 2012

Ida Schütz, geborene Hetterle
Ida Schütz, geborene Hetterle (ca. 1969)

Autor:

Geboren bin ich 1954 in einem deutschen Dorf in Westsibirien (Gebiet Omsk), lebe seit 1992 in Deutschland. Nach 18 Jahren Bibliotheksarbeit in Omsk und 20 Jahren in der Stadtbücherei Lüdenscheid bin ich nun seit Dezember 2019 Rentnerin. Ich schreibe gern für meine Blogs und für die Homepage. Es gibt zwei Buchveröffentlichungen von mir: "In der sibirischen Kälte" und "Andersrum". Einige meiner Texte sind auch als eBooks im Internet frei zugänglich.

8 Kommentare zu „„In der sibirischen Kälte“ – Buchausschnitt

  1. Liebe Rosa, ich finde deinen Buchausschnitt aus „In der sibirischen Kälte“ sehr beeindruckend und traurig zugleich. Unglaublich, was ein Mensch alles im Leben mit auf seinem Weg nimmt … und das schon im Kindesalter. Da wir seit kurzem im privaten Bestitz deines Buches sind, wird es durch mehrere Hände gehen. Vielen Dank nochmal 🙂

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    1. Liebe Nicole,
      ja, es liegen weite Welten zwischen damals und heute … und trotzdem ist damals immer noch sehr nah an meinem Herzen …
      Ich danke dir! Und ich freue mich riesig, dass mein Buch nun auch in Wuppertal ‚angekommen‘ ist 🙂
      Herzliche Grüße
      Rosa

      Gefällt 1 Person

  2. Sehr beeindruckend und ehrlich sind deine Gedanken! Vermutlich haben viele Kinder ein schlechtes Gewissen, wenn sie ihre Eltern beerdigen (zumindest wenn diese nicht gerade uralt sind) Wir Menschen suchen die Schuld für den Tod dann in uns. Das ist fatal. Der Tod kommt wann er will. Erst sterben unsere Eltern, dann wir. Manchmal ist es umgekehrt und das ist schlimmer.

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    1. Danke, Bernd, für deine Worte. Ja, das Schuldgefühl, das Bedauern bleibt für immer. Man denkt, hätte man mehr für die Mutter getan, dann hätte sie es zumindest etwas leichter gehabt. Obwohl auch das zweifelhaft ist und natürlich hätte es ihren Tod nicht verhindert. 58 Jahre ist sie nur alt geworden und ihr ganzes Leben war für sie eine Tortur (so mein Eindruck im Nachhinein).

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  3. Es ist sehr bewegend, was du schreibst, liebe Rosa, und ich kann deine Gedanken so gut nachvollziehen. Ich habe sie ähnlich empfunden, als meine mutter (viel zu früh) starb.
    “ … ich hätte dir nich so viel zu sagen.“ Dieser Satz hat mich lange begleitet. Aber ist es nicht immer so? Wenn man einen menschen gehen lassen muss, den man liebt, dass manches einfach ungesagt bleibt? Wir können aber die Gewissheit in uns tragen, dass das Fühlen Ungesagtes überdeckt, ja, hervorholen kann, so wie in deinem Traum.
    Es sind einfach menschliche Gefühle – Trauer, Schuld, die Furcht, versäumt zu haben, Liebe und auch Erleichterung.
    Sehr gern habe ich mich in deine Gedanken vertieft und am Ende hatte ich das Gefühl: Es ist gut so, wie es ist.

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    1. Danke, liebe Enya, fürs Lesen, für deine herzlichen Worte. Woran ich oft denke: Meine Mutter hätte noch Deutschland erleben können. Ich kann mir vorstellen, wie sie sich gefreut hätte, im Land ihrer Vorfahren leben zu dürfen, auch wenn es vielleicht nur ein paar Jahre wären …
      Aber du hast recht – der wundervolle Traum hat mich meiner Nutter ein großes Stück näher gebracht und so ist es gut.

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