Veröffentlicht in Persönliches

„Du hast mich zum Weinen gebracht“

Heute ist meine Schwester Aneta 80 Jahre alt geworden. Aneta spielt eine besondere Rolle in meinem Leben. Elf Jahre älter als ich, war sie für mich in meinen jungen Jahren eine der wichtigsten und vertrauenswürdigsten Menschen. Sie hatte es nicht leicht in der Familie und auch als Erwachsene viel durchmachen müssen. In meinem Buch gibt es ein Kapitel über sie: „Das ungeliebte Kind“. Ja, das war Aneta für unseren Vater – ein ungeliebtes Kind.

Zu dieser Ablehnung führte, meines Erachtens, Folgendes: Vater wurde im November 1942, als Mutter mit Aneta schwanger war, in die Arbeitsarmee eingezogen. Heimkehren durfte er erst im Oktober 1949, zu diesem Zeitpunkt war seine drittälteste Tochter schon sechs Jahre alt. Natürlich ist dies kein Grund, sein Kind nicht zu lieben, aber anders kann ich es mir nicht erklären. Aneta wurde in Vaters Abwesenheit geboren, er sah sie nicht aufwachsen. Sie war ihm gewissermaßen fremd. Ein Stiefkind sozusagen.

„Ich musste schwer schlucken, als du mir folgende Episode schildertest. Einmal brachte Vater Apfelsinen nach Hause – in Sibirien für damalige Zeit etwas ganz Besonderes. Er verteilte sie an die vier am Tisch sitzenden Kinder. Zuerst bekamen die Kleinsten (Jakob und ich) ein paar dieser Köstlichkeiten, dann zögerte er, schaute Ida und dich an, verzog das Gesicht und warf euch je eine Apfelsine zu: „Da habt ihr auch was!“ Wie einem Hund, sagtest du und deine Stimme zitterte. Auch nach mehr als 60 Jahren zitterte sie. Du hast die Apfelsine genommen, bist nach draußen gelaufen und hast sie weinend und gleichzeitig wutentbrannt weit hinaus in das Kartoffelfeld geschleudert. Nach einer Weile, dich selbst dafür verachtend, hast du die Frucht wieder aufgelesen und doch noch gegessen. 
Mir verschlug es die Sprache, und ich fragte dich nicht, ob du die Süße damals geschmeckt hattest oder nur die Bitterkeit, aber die Frage lag mir auf der Zunge.“

Aus dem Buch „In der sibirischen Kälte“

Diese familiäre Atmosphäre hatte gravierende Auswirkungen auf das weitere Leben meiner Schwester. Sie hatte viel zu kämpfen, viel zu bewältigen. Die Kindheitstraumata sowie einige Schicksalsschläge sind dafür verantwortlich, dass sie auch an schwerer Depression leidet.
Aneta ist kein einfacher Mensch, wir haben unsere Differenzen und nicht unbedingt die gleichen Lebenseinstellungen, bisweilen streiten wir, vertragen uns jedoch gleich wieder. Ich rechne meiner Schwester hoch an, dass sie mir sofort Glauben schenkte, was den Kindesmissbrauch angeht, ohne Wenn und Aber. Sie verteidigt mich stets vor den anderen – „Ungläubigen“. Und sie ist der größte Fan meines Buches und macht Werbung, wo sie nur kann; manchmal übertreibt sie es sogar.

Zu ihrem Jubiläum habe ich ihr heute ein Geschenk per WhatsApp geschickt: meine Übersetzung des Textes „Das ungeliebte Kind“ ins Russische, veröffentlicht auf meiner Homepage. Sie war tief gerührt. Du hast mich wieder zum Weinen gebracht, sagte sie am Telefon.

Aneta Falkenstern

Autor:

Geboren bin ich 1954 in einem deutschen Dorf in Westsibirien (Gebiet Omsk), lebe seit 1992 in Deutschland. Nach 18 Jahren Bibliotheksarbeit in Omsk und 20 Jahren in der Stadtbücherei Lüdenscheid bin ich nun seit Dezember 2019 Rentnerin. Ich schreibe gern für meine Blogs und für die Homepage. Es gibt zwei Buchveröffentlichungen von mir: "In der sibirischen Kälte" und "Andersrum". Einige meiner Texte sind auch als eBooks im Internet frei zugänglich.

19 Kommentare zu „„Du hast mich zum Weinen gebracht“

  1. Liebe Rosa, danke dafür, uns immer wieder an deiner und heute außerdem an Anetas Geschichte teilhaben zu lassen. 💖

    Auch damit hast du ihr, wie ich finde, ein sehr schönes (Geburtstags-)Geschenk gemacht. 🐱🌞🌸

    Herzlichste Grüße von mir an euch! VVN

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  2. Danke für dein Vertrauen. Alles Gute für euch alle in der Familie. 🍀💋🍀

    Kriegstraumata wirken immer noch nach. Ich, als Kriegsenkel befasse mich viel damit. Was dadurch dramatisches in den Familien passierte und passiert.
    ❤️❤️❤️
    Kennst du das Buch oder Hörbuch von Sabine Bode?
    „Kriegsenkel“. Die Erben einer vergessenen Generation. Ich kann es sehr empfehlen.
    Liebe ❤️Grüße.

    Gefällt 2 Personen

      1. Liebe Rosa, ich bin eine Kriegsenkelin und durch dieses Hrbuch ist mir sehr vieles aus unserer Familiengeschichte klar geworden.
        Mensch denkt, das diese Zeit so weit hinter uns liegt, ja, mag stimmen, doch Traumata gibt es noch genug. … sie wurden oftmals ungewollt weitergegeben.
        Herzliche Grüße M.M.

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  3. Liebe Rosa, ich schicke deiner Schwester herzliche Grüße zu ihrem Geburtstag. So ein wunderbares Geschenk, mit viel Liebe gemacht, von Herz zu Herz.
    Danke, dass du das mit uns teilst.
    Liebe Grüße, Christel

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  4. Eure Familiengeschichte(n) zeigen einmal mehr, welchen irreparablen Schaden in der Kindheit und Jugend erlebte Traumata anrichten können. Und das nicht nur beim direkten Opfer, sondern über Generationen. Ist dieses Erlebte überhaupt in irgendeiner Form ‚aufarbeitbar‘, um weiterzuleben als wäre es nicht geschehen? Ist Schweigen oder Verleugnung eine adäquate Lösung? Oder ist Reden und Veröffentlichung die bessere Strategie?

    Vermutlich hat jeder, jede Betroffene seine eigene Überzeugung und jedes Argument auf seiner/ihrer Seite. Aber auch meine Devise lautet „Nur sprechenden Menschen kann geholfen werden“ und zudem besteht die Chance, von einander zu lernen. Danke für deine und eure Geschichten.

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    1. Das ist auch meine Devise, liebe Heather. Darüber sprechen und darüber schreiben hilft ungemein – meine Erfahrung. Aber ich bin auch die einzige von sieben, die das machte und macht. Obwohl im Grunde alle Schaden davon getragen haben, auch die zwei, die nicht mehr am Leben sind … Nur meine älteste Schwester ist psychisch einigermaßen gesund, vielleicht ist sie deswegen so gegen mich. Sie ist 83 und ich denke, in diesem Leben wird es keinen Kontakt mehr zwischen uns geben. Dann soll es eben so sein. Meine Schuld ist es nicht.
      Herzliche Grüße
      Rosa

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      1. Vielleicht wirkt die Psyche deiner ältesten Schwester auch nur deshalb gesund, weil sie sich ‚verhärtet‘ und distanziert hat? So traurig es ist, aber mehr konntest/kannst du nicht tun – manches bleibt zerstört, und es ist sinnvoller die verbleibende Kraft auf die zu richten, die dir, liebe Rosa, auf diesem Wege entgegenkommen.
        Herzlichst
        Heather

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  5. Liebe Rosa,
    was für eine großartige Wertschätzung Deiner geliebten Schwester!
    Ja, ich erinnere mich an die Stelle im Buch. Beim Lesen Deines Buches hatte ich sehr oft Gänsehaut … Es macht(e) mich stark betroffen!
    Was mag Männern durch den Kopf gehen, wenn sie ihre Kinder dermaßen kleinreden? Es ist unfassbar – und es passiert sooft! Nicht nur in der Vergangenheit, auch heute noch richten Herablassung und Geringschätzung enorme seelische Schäden an. Vieles kann dabei auch zum Trauma werden – und ein Trauma ist nur sehr schwer zu heilen, manche Traumata verheilen auch nie, wir können nur lernen, damit zu leben.
    Ich freue mich für Euch beide, dass Ihr Euch trotz aller Differenzen und unterschiedlicher Lebensauffassungen so nahe seid!
    Ich schicke Dir herzliche Grüße,
    C Stern

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    1. Liebe C Stern,
      herzlichen Dank für Deine Worte! Es stimmt, was Du schreibst, und meine Schwester hat gelernt, damit zu leben (denke ich). Aber der Schmerz kommt immer wieder durch und das ist auch verständlich.
      Es nimmt mich immer sehr mit, wenn es ihr schlecht geht, wenn die Depression wieder da ist. Auch Medikamente können diese fiese Krankheit nicht endgültig vertreiben. In dieser Hinsicht hat es sie am schlimmsten von uns Geschwistern getroffen. Helfen kann ich leider nicht, nur reden und zuhören …
      Viele liebe Grüße
      Rosa

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