NetGalley Challenge 2020 – 1. Mini-Challenge

Im Rahmen der NetGalley Challenge 2020, die vom 13.05.2020 bis zum 14.06.2020 geht, gibt es jeden Mittwoch eine kleine Challenge, um die BloggerInnen miteinander zu vernetzen. Das erste Motto lautet: „Starte ein Gespräch über Bücher“.
Hier kommt mein Beitrag dazu. Zugegeben, er ist etwas länger gewordener, aber Bücher sind nun mal mit meinem Leben eng verbunden (was allerdings auf viele BloggerInnen ebenso zutrifft).
Auszug aus meinem Buch „In der sibirischen Kälte“
Mein erstes Buch bekam ich, als ich fünf Jahre alt war. Aus welchem Grund auch immer, in unserem Dorfladen gab es eines Tages Bilderbücher zu kaufen und Vater brachte mir eins mit. Es war „Das Märchen vom Fischer und dem Fischlein“ in Gedichtform von Alexander S. Puschkin und es war Liebe auf den ersten Blick: Die Liebe zum Buch, zum gedruckten Wort, zu einer fantastischen Welt, die mit diesen Worten so wunderbar beschrieben werden konnte, eine Liebe, die bis heute allen Widrigkeiten standgehalten hat.
Ich war von dem dünnen Heft mit den bunten Bildern überwältigt. Am Abend las Vater mir das Märchen vor, ebenso am nächsten. Auch am übernächsten wollte ich es unbedingt wieder hören. Bald lernte ich es auswendig, und es dauerte auch nicht allzu lange, bis ich mein geliebtes Buch selbst lesen konnte.
Was ist denn daran so besonders, einem Kind ein Märchen vorzulesen, könnte man fragen. Es gibt doch reichlich Kinderbücher – zu jedem Thema, für jedes Alter. Ja, das stimmt, aber man bedenke – dies geschah Ende der 50er Jahre in Russland und ich wuchs in einer streng baptistischen deutschen Familie in einem Dorf in Sibirien auf, wo außer Bibeln und religiöser Schriftstücke kaum andere Bücher geduldet wurden.
Die heiligen Schriften füllten unser Haus, denn neben seiner Arbeit im Kolchos restaurierte mein Vater in der Freizeit für die Gemeinde-Mitglieder die alten, abgewetzten Bibeln und Liederbücher. Die deutschen Gläubigen in Russland hatten keine Möglichkeiten, neue Bibeln legal zu kaufen. In diesem atheistischen Land wurden sie nicht einmal in russischer Sprache gedruckt, geschweige denn in einer anderen. Manchmal wurden sie aus dem Ausland heimlich eingeführt, aber die meisten der in Altdeutsch gedruckten Bibeln waren von den Siedlern aus ihrer alten Heimat mitgebracht worden. Sie stammten aus dem 18. oder 19. Jahrhundert und wurden von Generation zu Generation weitergegeben. Mit der Zeit lösten sie sich unweigerlich auf. Wenn eine Bibel den Zustand erreicht hatte, in dem sie nicht mehr benutzt werden konnte, dann trat der Hobby-Buchbinder Jakob Schütz in Aktion.
Ich sah Vater gern zu, wie er liebevoll die dünnen, fast durchsichtigen, oft zerrissenen und ausgefransten Blätter reparierte, einen frischen, mit schwarzem Leder bezogenen Deckel herstellte, den Buchblock neu vernähte. Er verwendete dafür ein von ihm selbst konstruiertes spezielles Gerät. Der Schnitt wurde mit einem scharfen Messer nachgezogen und bekam noch einen feierlichen roten Anstrich. Zum Schluss wurde der Block eingebunden, sorgfältig verklebt und der fertige Band unter die Presse gelegt. Vom Ergebnis seiner Arbeit war ich immer schwer beeindruckt – das Buch sah wie neu aus und roch angenehm nach Leder und Farbe. Ein Manko wies es jedoch auf – Deckel und Rücken hatten keine eingeprägte Aufschrift wie sonst üblich, denn so etwas war mit einfachen Mitteln nicht zu bewerkstelligen.
Nun aber zurück zum Fischer und dem Fischlein. Ich weiß bis heute nicht, warum Vater auf die Idee kam, mir so ein Geschenk zu machen. Er ahnte nicht, was er damit angerichtet hatte! Es war der erste, von ihm selbst gelegte ‚Pflasterstein‘ auf dem Weg weit fort aus der Bibelwelt, etwas, das er mit Sicherheit nicht hatte erreichen wollen. Andererseits – gewiss hätte ich früher oder später diesen Weg ohnehin eingeschlagen.
Auch wenn meine Eltern mir aus freien Stücken kein Buch dieser Art mehr schenkten, mussten sie mir bald andere kaufen, ob sie wollten oder nicht, denn die Schulpflicht war nicht zu umgehen.
Was war das für eine Pracht – meine ersten Schulbücher! So schön neu und dick und bunt – noch viel besser als das dünne Heft mit dem Puschkin-Märchen. Schon lange vor dem 1. September hatte ich sie alle durchgelesen, mehrmals sogar.
Die 1. Klasse kam mir dann ein bisschen langweilig vor, aber nur ein klitzekleines bisschen – ich ging immer sehr gern zur Schule. Das war für mich eine ganz andere Welt, in der ich mich viel wohler fühlte als zu Hause. Nicht zuletzt, weil ich da die Möglichkeit hatte, neuen Lesestoff zu bekommen. Obwohl man die spärliche Bücheransammlung kaum als Bibliothek bezeichnen konnte, gab es in der Grundschule jede Woche einen Büchertausch – und natürlich war die kleine Rosa die eifrigste Leserin. Es war wie Eintauchen in ein fremdes, aufregendes Leben und ich vergaß dabei mein eigenes.
In der 3. Klasse schrieb ich meinen ersten Aufsatz, der mit einer fetten roten 5 bewertet wurde (die beste Note in Russland). Ich weiß noch – es ging um Berufe und ich erzählte über meine Schwester Ida, die gerade ihre ersten Erfahrungen im Erwachsenenleben machte. Die Lehrerin fand meinen Text so außergewöhnlich, dass sie ihn vor der ganzen Klasse vorlas. So entdeckte ich schon ganz früh, wie viel Spaß das Schreiben machte. In all den Schuljahren, die folgten, bekam ich in den Fächern „Literatur“ und „Russisch“ immer nur die Note ‚Ausgezeichnet‘.
Bei uns im Dorf gab es nur die Grundschule. Nach der vierten Klasse besuchten alle die Schule im Nachbardorf Heimtal (russischer Name „Rodnaja Dolina“), fünf Kilometer von daheim entfernt.
In Heimtal gab es eine richtige Dorfbücherei, die ich natürlich so oft wie möglich besuchte. In dieser Zeit entdeckte ich für mich den Dichter Michail Lermontow. Ich war fasziniert von seinen Gedichten und besonders von dem Poem „Mcyri“ (Der Novize). Ich hätte damals so gern ein eigenes Exemplar von „Mcyri“ gehabt, um das Poem immer wieder lesen zu können, aber ich musste mich damit begnügen, die Verse in ein Heft abzuschreiben. Es klingt vermutlich lachhaft, aber so bescheiden verlief mein Leben nun einmal vor vielen Jahren. Heute noch kann ich mir fast alle Strophen dieser poetischen Erzählung ins Gedächtnis rufen. Ich habe „Mcyri“ auch in Deutsch gelesen, aber mit dem Original kann sich die Übersetzung nicht messen.
Ich fühlte mich seelenverwandt mit Mcyri. Seine Qual war auch meine Qual, seine Sehnsucht auch die meine, denn wie er empfand ich mein Leben oft als Gefängnis.
Nun ja, die Zeit blieb nicht stehen. Ich musste erneut die Schule wechseln, da es in Heimtal nur acht Klassen gab. Die letzten zwei Jahre ging ich im Kreisstädtchen Moskalenki zur Schule. Der Ort war 12 km von Schönfeld (russischer Name „Dobroje Pole“), meinem Heimatdorf, entfernt. Ein Klacks, würde man heute sagen, aber nicht für damalige Verhältnisse. Es gab keine regelmäßigen Busverbindungen und jeden Tag den Weg hin und zurück zu Fuß zu bewältigen war unmöglich. Nur wenige Familien besaßen ein Auto. Und selbst wenn sie es besaßen, hatten sie keine Zeit, zweimal täglich diese Strecke hin- und zurückzulegen. Deshalb mussten sie für ihre Kinder ein Quartier vor Ort besorgen. Für mich war das kein Problem, denn meine Schwester Aneta bewohnte in dem Städtchen mit ihrem kleinen Sohn ein Häuschen und nahm vier Mädchen auf – unsere Cousine, meine beste Freundin, deren Schwester und mich.
Es war eine schöne Zeit. Zu sechst in nur zwei Räumen – Wohn/Schlafzimmer (mit Feldbetten, versteht sich) und Küche – waren wir eine eng verbundene Gemeinschaft.
Ich genoss meine Freiheit, die vielen Bücher, die ich lesen konnte. Die Kontrolle der Eltern fiel ja weg. Endlich durfte ich auch die Erwachsenen-Romane in der Stadtbibliothek ausleihen. Ich las vor allem Klassiker, denn in der Zeit der fast totalen Zensur war es für die zeitgenössischen sowjetischen Schriftsteller nicht leicht durchzustarten. Dennoch gab es einige gute Autoren, die sehr populär waren. Auch nach Science-Fiction griff ich gierig. Vielleicht weil darin meist nicht die Gegenwart, sondern die Zukunft beschrieben war?
Was meine eigenen Zukunftspläne betraf, so war mir klar, dass ich aufgrund der politischen Gegebenheiten mit meiner schriftstellerischen Begabung nicht viel werde anfangen können, obwohl ich auch in der neuen Schule die Beste im Schreiben war. Vielleicht ist es aber auch gut, dass ich es gar nicht erst versuchte. Dafür wurde aus mir eine echte Bibliothekarin, die ihren Beruf sehr gern ausübte.
Allmählich bekamen wir auch Zugang zu den Übersetzungen der zeitgenössischen amerikanischen Autoren. Unter den ersten dieser Schriftsteller waren Stephen King und Arthur Hailey.
Von Stephen Kings Romanen war ich sofort angetan. Mich reizte in seinen Büchern die spannende Mischung aus Fantasy, Science-Fiction, Horror und dennoch viel Menschlichkeit. Auch heute noch freue ich mich immer auf seine Neuerscheinungen.
„Airport“ von Hailey … Die ersten Bilder der realen kapitalistischen Welt. Wie es schien, war sie gar nicht so böse und ungerecht, wie es den sowjetischen Bürgern immer vor Augen geführt wurde, sondern gerechter und humaner als der Sozialismus.
In der Bevölkerung kursierten auch einige verbotene Bücher, wie zum Beispiel „Archipel Gulag“ von Solschenizyn. Gedruckt wurde so etwas im Ausland, und auf welchen Wegen die Bücher dann nach Russland gelangten, blieb mir stets ein Rätsel.
Uns stand die Reise nach Deutschland bevor, eine Reise ohne Rückticket. Die ersten Wochen und Monate im fremden Land – keine einfache Zeit, denn alles musste neu erlernt werden im wahrsten Sinne des Wortes.
Warum überhaupt dieser Schritt, warum wollten wir Russland verlassen? In wenigen Worten zusammengefasst – mein Mann und ich wollten eine bessere Zukunft für unsere Kinder. Unser ältester Sohn sollte im Herbst einberufen werden – das konnten wir auf keinen Fall zulassen. In der Armee wäre er zugrunde gegangen. Der Jüngste litt an schwerem Asthma. Auch sehnte ich mich nach einem Leben unter Menschen, die Deutsch sprechen. Mein Unterbewusstsein sagte mir, dass ich hierher gehörte, dass Deutschland meine wahre Heimat sei. Wie schwer der Anfang auch war, ich habe es keine Minute bereut, diese Veränderung gewagt zu haben, keine einzige.
Nur eins bedauere ich zutiefst – vor der Ausreise verbrannte ich alle meine Tagebücher, die ich als Jugendliche geführt hatte. Dumm, sehr dumm von mir. Ich kann mir selbst nicht erklären, was mich dazu bewog, aber es ist nicht rückgängig zu machen.
Bemerkenswert: Im Sprachkurs, den ich als Aussiedlerin 1993 absolvierte, wiederholte sich die Geschichte aus meiner Grundschulzeit, als ich den ersten Aufsatz schrieb. Meine Leidenschaft für das Schreiben, die bis dahin vor sich hin schlummerte, erwachte wieder zum Leben. Ich war selbst überrascht, dass ich mich schriftlich auch in Deutsch gut auszudrücken konnte.
Der Sprachlehrerin fielen meine schriftlichen Arbeiten auf. Sie ermutigte mich, einen Schreibkurs zu besuchen und so nahm ich einige Semester lang an der Schreibwerkstatt der VHS teil. Es war für mich eine sehr gute Erfahrung.
2010 geschah etwas ganz Besonderes, etwas, womit ich nicht mehr gerechnet hätte! An einem dienstfreien Samstag – genaugenommen war es der 4. Dezember – machte ich mich gleich nach dem Frühstück auf die Suche nach günstigen Downloads für meinen neuen eBook-Reader. Schon nach kurzer Zeit stieß ich im Internet auf eine Plattform mit dem Namen BookRix. Erfreut stellte ich fest, dass ich dort sogar die Möglichkeit hatte, selbst eBooks zu erstellen. Da war es wieder, das wunderbare Gefühl, einen Schatz entdeckt zu haben – fast wie damals, als ich, fünfjährig, zum ersten Mal ein Buch geöffnet hatte. Ohne lange zu überlegen, ohne auch nur zu zögern, meldete ich mich an, erstellte ein Profil unter dem Usernamen anarosa und begann zu schreiben …
Ist es denn verwunderlich, dass ich damit nicht mehr aufhören kann? … 😉
Liebe Rosa,
Du hast Deine erste Liebe wundervoll beschrieben und man kann nachspüren, welche Bedeutung das Schreiben und die Bücher für Dich haben. Ich glaube ohnehin, dass sich im Unterbewusstsein schon die tiefsten Sehnsüchte befinden, die dann durch äußere Impulse freigelegt werden. So wie das Märchenbuch „Das Märchen vom Fischer und dem Fischlein“. Dazu eine Frage: Ist das Bild das Original-Cover? Ich wünsche Dir von Herzen weiterhin noch viele „Lieben“ in Form von lesenswerten und interessanten Büchern, bei denen Du in andere Welten abtauchen kannst und vor allem die Freude zum Schreiben, so dass wir bald wieder was von Dir als Autorin lesen dürfen.
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Danke, liebe Karin! Ja, mit Puschkin hat es begonnen, und bei eigenen Werken bin ich gelandet. Nicht, dass ich mich mit dem großen Dichter vergleichen würde. 😃
Nein, es ist nicht das Cover, sondern eine Illustration zum Märchen aus dem Internet.
Viele Grüße
Rosa
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Hallo Rosa,
stimmt, Dein Beitrag ist lang – aber schön, interessant und ein bisschen auch bewegend. Danke, dass Du uns an einem Stück Deines Lebens teilhaben lässt.
Ich verlinke Dich dann auch mal in meinem Beitrag.
Gruß Babsi
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Dankeschön fürs Lesen und für deine Worte! Freut mich sehr.
Liebe Grüße
Rosa
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Hallo Rosa,
Du ich kann mich auch noch an mein erstes geschenktes Buch erinnern – da konnte ich schon lesen. Es hieß der Panther Kapo. Es war sehr spannend und ich wurde auch ein so richtiger Lesewurm. Und meine Aufsätze wurden auch in der Klasse oft vorgelesen. Das hat mich wahrscheinlich auch motiviert zu schreiben. Das ist wieder so ein Beispiel, wie wichtig es für Kinder ist sie in ihren Talenten zu unterstützen und fördern.
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Meine Eltern haben mich leider nicht wirklich unterstützt, eher Steine in den Weg gelegt. Die Lehrer waren es und gewissermaßen ich selbst. 😉
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Ein schöner Bogen spannt sich von deiner ersten Begegnung mit der Welt der Literatur und deiner jetzigen Lese- und Schreibwelt: Fischer und (Inter-)netz 😊😊, das hat was!
Lieben Gruß,
Beate
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Danke! Das hat wirklich etwas! So habe ich es noch gar nicht gesehen. 😃
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Hallo Rosa,
eine sehr schöne Erzählung über deine Liebe zu Büchern, zur Sprache, zum Lesen, zum Schreiben.
Gerne hätte ich einen Vater wie deinen – nein, nicht als Vater – aber als Buchrestaurator. Ich habe vor fünf Jahren unser erstes Märchenbuch auf dem Dachboden meiner Eltern wiedergefunden. DAS BUNTE BUCH vom Österreichischen Jugendverlag. Mit der Widmung von Mama. „Unseren lieben Kindern. Weihnachten 1956.“ Leider sind die Ränder der wundervollen farbigen und sehr altmodischen Bilder ausgefranst und die Blätter halten nicht mehr alle zusammen. Aber ich erinnere mich an jede einzelne Geschichte. Wir hatten viele wunderbare Bücher, weil Mama selbst eine Leseratte war und noch bis ins hohe Alter Schillers Glocke und andere Gedichte aufsagen konnte.
Eine Frage noch, Rosa: Habt ihr zuhause Deutsch gesprochen? Oder musstest du es als Zweitsprache neu lernen beim Umzug nach Deutschland?
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Danke, liebe Elsa!
Das sind die schönen Erinnerungen unseres Lebens, die nie verblassen werden. 😊
Ja, ich hatte zu Hause als Kind deutsch gesprochen – einen Dialekt (Hessen?), gemischt mit russischen Wortgebilden, in der Schule lernte ich Deutsch als Fremdsprache. Das half mir natürlich sehr als ich nach Deutschland kam. Grundsätzlich habe ich wahrscheinlich so eine Art Begabung für Sprachen – im Russischen mache ich nie Fehler, Deutsch zu schreiben fällt mir auch immer leichter. Mit dem Sprechen ist es anders – meinen Akzent werde ich wohl nie mehr los. 😉
Herzliche Grüße
Rosa
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