Warum ich diesen Brief (genauer gesagt, die Kopie davon) aufbewahrt habe? Warum ich ihn hier veröffentliche? Ich glaube, zu seiner Zeit war er ein Zeichen meines wachsenden Selbstvertrauens, meiner Entwicklung. Heute kann ich sagen, dass ich beim „Umkrempeln“ meines Lebens richtig vorgegangen bin. Von Anfang an war ich ehrlich zu mir selbst, zu meiner Familie und zu meinen Freunden. Es gab für mich nur diesen einen Weg – den Weg der Offenheit, um nach vorn zu gehen.
Eine Antwort auf den Brief bekam ich nicht. Die beiden (ein älteres Ehepaar, Name geändert), denen er adressiert war, leben auch nicht mehr.
Den Text habe ich soeben korrigiert und muss mir selbst ein Lob aussprechen – allzu viele Fehler waren es auch damals schon nicht.
„10. Februar 1999.
Liebe Frau Heimann, lieber Herr Heimann,
bestimmt fragen Sie sich jetzt, was dieser Brief zu bedeuten mag? Ja, warum schreibe ich Ihnen?
Erstens möchte ich mich dafür entschuldigen, dass ich Ihnen, Frau Heimann, zu Ihrem Geburtstag nicht gratuliert habe. In dieser Woche vor dem 6. Februar war ich so sehr mit Bewerbungen beschäftigt, dass mir alles andere aus dem Kopf ging. Erst am Montag fiel mir ein, dass ich doch vorhatte, Ihnen eine Geburtstagskarte zu schreiben. Nun war es zu spät. Anzurufen habe ich mich, um ehrlich zu sein, nicht getraut. So bin ich auf die Idee gekommen, Ihnen beiden diesen Brief zu schreiben. Offen gesagt, habe ich das schon zigmal in meinen Gedanken getan. Denn wie Sie wohl verstehen, geht es mir hier nicht nur um den vergessenen Geburtstag, sondern um viel mehr. Und das ist die zweite Antwort auf die Frage „Warum?“.
Aber zuallererst möchte ich Ihnen doch, liebe Frau Heimann, alles-alles Gute und viel Glück wünschen (wenn auch sehr-sehr nachträglich) für Ihr weiteres Leben.
Nun weiß ich nicht, wie ich zum nächsten Thema meines Schreibens übergehen soll, von welchem Ende es besser zu fassen wäre.
Vielleicht fange ich einfach damit an, dass ich mich für alles, was Sie für mich getan haben, bedanke. Ich habe es nicht vergessen, nein. Und wenn Sie das Gefühl haben – ich hätte Sie bloß benutzt, als es mir nicht so gut ging und dann den Kontakt abgebrochen, weil ich Sie nicht mehr brauchte – so stimmt das ganz und gar nicht. Der einzige Grund, weshalb ich mich zurückgezogen habe, ist der, dass Sie (wie ich von Ihrer Tochter weiß und natürlich es auch selbst ahne) für meine Lebensveränderung kein Verständnis finden, ebenso wie es einige meiner Verwandtschaft nicht finden können. Zum Beispiel hat meine älteste Schwester mich verflucht, aus der Geschwisterliste „gestrichen“ und mir den Tod gewünscht, am besten durch Selbstmord. Die Jüngste im Gegenteil liebt mich genauso wie früher, aber ich tue ihr sehr leid und sie betet Tag und Nacht für mich. Jakob hat nichts gegen mich persönlich, möchte mich aber nur allein zu Besuch haben und überhaupt „kotzen“ ihn Homosexuelle an.
Meine Stiefmutter? Mit ihr konnte ich mich wenigstens aussprechen und versuchen, ihr zu erklären, dass ich bevorzuge, ehrlich zu mir selbst und meiner Familie zu sein, statt mich zu verstecken oder im Stillen zu leiden. Dass ich die mir noch verbliebenen Jahre so leben möchte, wie ich es für richtig halte, dass ich mich nicht auf Wunsch ändern kann und alle sich damit abfinden müssen, eine Lesbe in der Familie zu haben.
Die Einzigen, die mein Coming-out nicht geschockt hat, sind Ida und Aneta, mit ihnen habe ich nach wie vor ein gutes Verhältnis.
Ich weiß, so extrem wie meine älteste Schwester, haben Sie nicht reagiert, als Sie erfuhren, was mit mir los ist, aber ich kann mir schon vorstellen, wie unangenehm erstaunt Sie waren. 25 Jahre verheiratet, zwei erwachsene Kinder … wie konnte sie bloß! … Wie kann eine Frau überhaupt sich nach so vielen Jahren in eine andere Frau verlieben, mit einer Frau ins Bett gehen wollen? Und wahrscheinlich auch: Gott erlaubt so etwas nicht, es ist eine Sünde.
So oder ähnlich dachten Sie doch, nicht wahr?
Zu dem Thema Sünde möchte ich Ihnen sagen: Ich glaube nicht daran, dass Liebe eine Sünde sein kann, auch wenn es um die gleichgeschlechtliche Liebe geht. Vielleicht war Gott einmal dieser Ansicht – am Anfang, als die Menschheit noch so jung war. Ursprünglich hatte er es ohnehin ganz anders gemeint, nicht einmal die menschliche Fortpflanzung war von ihm geplant. Eigentlich wollte er Adam und Eva unschuldig im Paradies behalten (als Spielzeug für sich?). Und was kam dabei heraus? Der Mensch ist ihm außer Kontrolle geraten. Hat Gott einen Fehler gemacht? Oder hat er seine eigene Schöpfung falsch eingeschätzt? Oder ist sein Werk viel komplizierter geworden, als er es sich erdachte? Konnte er denn ahnen, dass die Menschen sich nicht bloß vermehren, sondern auch noch Männer Männer und Frauen Frauen lieben werden? Und als das geschah, soll er diese Liebe verboten haben? Aus welchem Grund? Dies hat er nun nicht erklärt. Denn es gibt auch keinen Grund, warum diese Liebe nicht sein darf.
Es gibt auf dieser Welt Millionen von Menschen, die homosexuell sind. Sie können ihre Sexualität nicht ändern, genauso wie es Heterosexuelle nicht können. Sie kann vielleicht unterdrückt sein, sich nur sporadisch melden (viel machen ja die gesellschaftlichen Umstände, die Erziehung, die Angst davor, was Leute sagen, aus), aber eines Tages zeigt sie sich doch mit aller Kraft und will ausgelebt werden.
So ist es mir passiert. Glauben Sie mir, es war ein Schreck auch für mich, auf einmal festzustellen, dass ich mich in eine Frau verliebt habe. Aber jetzt stehe ich dazu und bin froh, mich nicht mehr „verstecken“ zu müssen.
Liebe Frau Heimann, lieber Herr Heimann, ich verlange keine Antwort von Ihnen (meine Fragen können Sie gern als rein rhetorische betrachten), obwohl ich mich natürlich sehr darüber freuen würde. Ich akzeptiere, wenn Sie Ihre Meinung trotz dieses Briefes nicht ändern können, bin aber gern bereit, mit Ihnen über das Thema zu diskutieren. Wenigstens hoffe ich, Sie überzeugt zu haben, dass ich mit meinem Leben vollkommen zufrieden bin. Ich meine damit die private Seite. Was die andere Seite angeht, so habe ich auf meine Bewerbungen inzwischen meine Unterlagen mit „freundlichen Grüßen“ zurückbekommen. Aber ich gebe mich nicht geschlagen und habe auch in dieser Richtung viel vor. Ich bin mir sicher – bald werde ich nicht mehr in der Spalte „Beruf“ angeben müssen, dass ich als Putzfrau arbeite. (Reinigungskraft klänge allerdings viel vornehmer, aber das Wesentliche ändert sich ja dadurch nicht).
Mit herzlichen Grüßen
(immer noch dieselbe) Rosa“
PS: Der berufliche Erfolg hatte nicht lange auf sich warten lassen – ein Jahr später erhielt ich auch schon eine Anstellung in der Stadtbücherei Lüdenscheid.


Ich finde es sehr mutig und ehrlich, wie du an die Sache herangegangen bist !
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Danke! Auch wenn keine Reaktion kam, tat es mir selbst gut, mich auf diese Weise zu erklären. 😊
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Das kann ich mir sehr gut vorstellen. Es ist wahrscheinlich die Methode, die bei weitem am wenigsten Stress verursacht
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Ja, eine hitzige Diskussion habe ich mir auf jeden Fall erspart.
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Ein mutiger Brief. So oder so ähnlich könnte auch ich Briefe schreiben – Ich bin zwar nicht homosexuell sondern nur autistisch, aber auch mich haben Menschen deswegen fallen lassen. Auch Familienmitglieder, insbesondere Geschwister.
Du hast mir mit diesem Brief Mut gemacht, ich werde dennoch keinen solchen schreiben. Danke fürs zeigen.
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Danke, Piri! Es fühlt sich gut an, zu wissen, dass man jemand mit seiner Tat Mut macht. Ich bin mir jedoch sicher, auch wenn du solch einen Brief nicht schreiben würdest, beweist du auf andere Art und Weise deinen Mut und meisterst dein Leben mit allen seinen Aufgaben. 😍
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Danke, mutig bin ich – das weiß ich!
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Liebe Rosa, du bist ein wundervoller Mensch! Danke für alles Teilen mit uns. Deine Geschichte berührt mich sehr.
Liebe Grüsse Brig
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🥹❤️🌹🌈 Danke fürs Lesen und Mitfühlen!
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Ja, liebe Rosa,
auch ich bewundere deine offene, rückhaltlose Ehrlichkeit und deinen Mut. Andererseits spüre ich durch viele Zeilen deiner Beiträge stets deine (durch unterschiedliche Verursacher) zutiefst verletzte Seele, die, wenn überhaupt, nur langsam heilt!
Ich selbst war schon 40 Jahre alt, als der Bundestag die endgültige Streichung des §175 beschloss, und bin als Pubertierende und später als Praktikantin nicht selten in den „Genuss“ deftiger, zotiger Homosexuellenwitze gekommen. Die Zeit war, wie sie war. Wer etwas anderes behauptet, ist nicht ehrlich. Empathische Menschen haben jedoch die grandiose Option, ihr Leben lang dazu zu lernen. Nichts muss bleiben, wenn Fehler identifiziert wurden. Und wir haben schon gelernt, denkt man an die jahrhundertelange Zeit der Verfolgung und Verurteilung Homosexueller!
Ich gestehe freimütig, dass es mir tatsächlich im Grunde meines Herzens immer „wumpe“ war, wie X oder Y sexuell orientiert sind/waren oder welche anderen oberflächlichen Unterschiede (Herkunft, Hautfarbe, Glauben …) es gibt/gab und entsprechend bunt war die kleine Schar meiner Freunde. Einzig wichtig ist mir der Charakter, der mit meinem kompatibel sein sollte. Die sogenannte Wellenlänge muss stimmen! Nie war es für mich überhaupt von Bedeutung, welches Geschlecht von wem bevorzugt wurde – das ist geschützte Privatsphäre, die selbstredend zu respektieren ist.
Ich selbst stelle mich schließlich nirgendwo vor, indem ich als erstes sage „Hallo, ich bin Heather, sehe zwar wie ein Mannweib aus, bin aber eine alte Hetefrau.“ Als junge Frau hat mich die vorschnelle optische Aburteilung und das Schubladendenken meiner Mitmenschen oft verletzt, ich habe mich dennoch weder verbiegen können, noch wollen.
Du, liebe Rosa, wirst verbohrte und/oder altersstarrsinnige Menschen mit nichts erreichen können, denn kein noch so gutes Argument käme gegen schlichte Liebe und Akzeptanz an. Und wenn ein Teil deiner Familie und Freunde nicht einmal dazu bereit ist, ist auch alles Reden für den *****! Und anderen, fremden Mitbürgern bist du ohnehin in keinster Weise zu Erklärungen verpflichtet. Lege deinen Samen lieber in Herzen, die bereit dafür sind.
Regenbögen stehen in meinen Augen nicht nur für die LGBTQ-Community, sondern für alle Menschen, die stempellos leben möchten. Intoleranz, Dummheit und Klischeedenken finden sich in jeder Gruppierung der Welt. Es gibt keine Randgruppen – die Weltbevölkerung IST ein Konglomerat aus Randgruppen und jeder könnte, sofern er möchte, sich irgendwo anstellen.
Ganz liebe Grüße, Heather
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Liebe Heather, danke für deinen Zuspruch!
Es ist schade und auch frustrierend, feststellen zu müssen, dass Menschen an ihren Vorstellungen und Vorurteilungen festhalten und nicht gewillt sind, ihre Meinung zu ändern. Nur selten gelingt es, ein Verständnis zu erlangen. Meine Stiefmutter damals hat mir zugehört und verstanden, was mich bewegt. Es war ihr fremd, ich weiß, und trotzdem hat sie mich und auch meine Frau respektiert, den Kontakt nicht abgebrochen und uns sogar in unserer Wohnung besucht. Das fanden wir ganz wundervoll. Leider lebt auch sie nicht mehr.
Ich hoffe doch, das die Menschen immer toleranter werden, auch diejenigen, die aus meiner alten Heimat kommen. Bloß die zwei Geschwister habe ich, ehrlich gesagt, für immer aufgegeben. Da ist nun wirklich nichts mehr zu machen.
Viele herzliche Grüße
Rosa
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Liebe Rosa,
vielen Dank, das du diesen Brief mit uns geteilt hast.
Es war damals mit Sicherheit nicht einfach für dich, ihn zu schreiben. Und es ist auch schade das du nie eine Antwort erhalten hast.
Fühl dich ganz fest von mir gedrückt.
Liebe Grüße
Trude
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Danke, liebe Trude! 🥹
Zufällig traf ich einmal im Verlauf der nächsten Jahre Herrn H., er tat so, als ob nichts wäre, kein Wort zum Thema. Wir tauschten ein paar Floskeln aus – das war’s dann auch schon.
Herzlichst 💕
Rosa
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