Das war mein allererstes Interview … aber nicht, dass ihr denkt, es gibt übermäßig viele weitere. 😉
Die Fragen sind mir online gestellt worden, sodass ich Zeit hatte, um in Ruhe nachzudenken und meine Antworten auszuarbeiten.
Publiziert am 31. Dezember 2014 im „Kompass“ – Zeitung für Piraten.
Ein Interview mit Rosa Ananitschev über ihr Buch „Andersrum“ und die Thematik Kindesmissbrauch.
Rosa Ananitschev (geborene Schütz) erblickte die Welt 1954 in einem deutschen Dorf in West-Sibirien (Gebiet Omsk). 1992 kam sie mit ihrer Familie nach Deutschland und lebt seit 1997 in gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaft. Seit Ende 2010 veröffentlicht Rosa Ananitschev ihre Kurzgeschichten und Erinnerungen als E-Book im Internet und in gedruckter Form.
Kompass:
Du hast ein Buch über Kindesmissbrauch geschrieben, was unterscheidet dieses Buch von anderen, die es sicherlich schon gibt?
Rosa:
Die Mischung macht es. Die Mischung aus Märchenhaftem, Science-Fiction, Sozialem und Geschichte mit einem Schuss Autobiografie. Wobei das zentrale Thema der Erzählung für alle Zeiten immer brandaktuell bleibt.
Kompass:
Was inspirierte dich, das Buch „Andersrum“ zu schreiben?
Rosa:
Das Buch entstand nach und nach. Am Anfang war es eine märchenhafte Kurzgeschichte (in der Novelle der 1. Teil „Das Licht“), zu einem Bild geschrieben, auf dem ein Kind eine riesige, in der Erde verpflanzte Glühbirne bestaunt. Diese Geschichte wurde von Renate Zawrel (Sarturia Verlag) für eine Märchenanthologie ausgewählt. Die Arbeit an der Anthologie dauerte an. Inzwischen schrieb ich die Fortsetzung: „Die lachenden Gesichter“. Es war sozusagen eine Übungsarbeit – im Text sollten fünf Begriffe vorkommen. Erstaunlicherweise passten sie alle zu meiner eigenen Kindheit, riefen viele Assoziationen auf. Man muss diesen Teil wirklich lesen, um zu begreifen, wie das Leben der kleinen Lisa/Rosa war, und vielleicht wird man so manches auch gar nicht verstehen – aus heutiger Sicht …
Von da an ließ mich das Mädchen nicht mehr los. In Gedanken kehrte ich immer wieder zu der kleinen Lisa in die Vergangenheit zurück, stellte mir vor, wie sie ihr Leben meistert. Mir war klar – sie braucht Hilfe, denn alleine würde sie es mit ihrer schweren Last nicht schaffen. So kam es dazu, dass ich die Geschichte weiterschrieb.
Kompass:
Das Schicksal der kleinen Lisa ist lange Zeit unklar. War das Buch von vornherein so geplant?
Rosa:
Wie schon erwähnt, war das Buch anfangs so, wie es im Endeffekt geworden ist, nicht geplant. Erst, als ich nach den zwei Teilen weiter schrieb, merkte ich, dass sie, obwohl abgeschlossen, wunderbar zu den Fortsetzungen passen. Der Grund von Lisas Traurigkeit war nur mir selbst bekannt, der Leser konnte bloß spekulieren, was mit dem Mädchen los war. Dabei sollte es auch im ersten Teil bleiben. Auch der Teil „Die lachenden Gesichter“ fügte sich bestens in das Ganze. Dieser Abschnitt zeigte ein wenig das Umfeld von Lisa, wie ihr Leben war, wie sie sich über so alltägliche, für heutige Kinder langweilige Sachen, wie rote Gummistiefel, freute. Es ist eine schöne, ruhige Geschichte, die beim Lesen ein Lächeln hervorzaubert. Aber die Ruhe ist trügerisch. Der Sturm kommt noch; ausgelöst durch eine ‚Kleinigkeit‘, ist er unvermeidbar und nimmt ein Ausmaß, dem das Kind alleine nicht gewachsen ist.
So passiert es ja auch im wahren Leben. Ein Wort, eine seltsame Erinnerung, ein scheinbar unbedeutender Vorfall, und alles gerät aus den Fugen – die tief vergrabenen Erlebnisse kommen in Bewegung und drängen wieder an die Oberfläche …
Kompass:
Die Geschichte spielt in den 50-er in einem deutschen Dorf irgendwo in Russland. Hat das eine Bedeutung?
Rosa:
Ich kenne die Meinung vieler meiner Landsleute, dass so etwas in Russland früher nicht möglich war – es gab keinen Kindesmissbrauch, schon gar nicht in deutschen Dörfern und in der Familie … und wenn doch, dann waren es nur Einzelfälle. Ich erlaube mir zu behaupten, dass es nicht nur Einzelfälle waren. Aber die Öffentlichkeit erfuhr nichts davon, genauso wie von vielen anderen Verbrechen. Die Kinder litten stillschweigend, ohne jegliche Hilfe, ohne Hoffnung. Sie verdrängten, versuchten, mit der schrecklichen Last ein normales Leben zu führen. Wie viele schafften es nicht, wie viele scheiterten und zerbrachen, wie viele wurden selbst zu Verbrechern? Das weiß keiner.
Kompass:
Warum fürchtet sich Lisa nicht vor dem ‚schwarzen Mann‘?
Rosa:
Ja, das wundert so manch einen Leser. Aber es hat auch eine Erklärung. Lisa sieht Duh zum ersten Mal nachts, als sie aus einem Albtraum aufwacht. Eigentlich müsste sie noch mehr erschrecken beim Anblick der dunklen Gestalt, die an ihrem Bett sitzt. Aber das Mädchen sehnt sich so sehr nach Freude, Beachtung und Liebe, dass ihm das Äußere nicht so wichtig ist. Die Kleine hört die angenehme Stimme, einfühlsame Worte; sie spürt die Wärme und Anteilnahme, die die Gestalt aussendet. Sogar den angenehmen Geruch nimmt sie wahr! Sie fühlt, dass der schwarze Mann nicht böse ist, dass sie ihm vertrauen kann, dass er sich ihrem Kummer annehmen und ihr zuhören wird.
Kompass:
Warum kommt gerade Duh – ein fremdartiges Wesen – Lisa zur Hilfe?
Rosa:
Nun, gerade deswegen, weil kein Mensch in Lisas Nähe dazu imstande war, ihr zu helfen, sie zu verstehen. Keiner hätte ihr geglaubt, ihr zugehört … Es gab andere, dringendere Sorgen, es gab den alltäglichen Kampf, die Arbeit. Da waren Lisas Albträume ohne Bedeutung und ihre Traurigkeit, ihre depressiven Gedanken kümmerten die Erwachsenen nicht. Sie war ja noch/nur ein Kind …
Kompass:
Als Autorin willst du sicherlich eine Botschaft mit dem Buch vermitteln und erhoffst dir auch etwas davon. Was ist dies?
Rosa:
Mit „Andersrum“ will ich zum Ausdruck bringen, dass jedes Kind ein einzigartiger, wertvoller Schatz ist. Unser aller Schatz. Dass ein kleiner Mensch unter Gewalt und Ungerechtigkeiten mehr leidet als ein großer. Für ein Kind ist alles größer – ein freudiges Ereignis ebenso wie Schmerzen, die man ihm zufügt. Die ersten Jahre seines Lebens prägen seine Zukunft – das wissen wir alle, denn wir waren alle einmal Kinder, nur haben es einige vergessen, darunter auch diejenigen, die als Erwachsene Kinder missbrauchen.
Ich weiß, kein Buch der Welt kann einen Kinderschänder zur Reue bringen – er wird weitermachen. Aber vielleicht können wir uns schützend vor ein Kind stellen und es nicht mehr zulassen! Vielleicht können wir lernen, ein Kind, das uns stumm etwas mitzuteilen versucht, zu verstehen, ihm endlich zuzuhören. Vielleicht können wir lernen, ihm zu vertrauen und zu glauben. Und dann wird das Kind auch uns vertrauen und das erzählen, was es niemandem zu erzählen wagt. Dann wird sich der ungeheuerliche Schmerz nicht in sein Unterbewusstsein herabsenken und das ganze Leben zur Hölle machen, denn dann können wir Erwachsenen dem Kind helfen.
Kompass:
Wäre die Bezeichnung Märchenbuch treffend?
Rosa:
Nein, „Andersrum“ ist definitiv kein Märchen.
Kompass:
Für welche Altersgruppe ist das Buch gedacht und in welches Genre könnte man es einordnen?
Rosa:
Das Buch ist für mich selbst schwer einzuordnen. Ob das jetzt gut oder schlecht ist, aber ich denke, es lässt sich einfach in keine der „Genre-Schubladen“ stecken. Es ist für Erwachsene gedacht, jedoch auch Jugendliche ab 12 – 14 Jahren können es lesen und ihre Schlüsse daraus ziehen.
Kompass:
Was kann jeder von uns gegen Kindesmissbrauch tun bzw. was ist deiner Ansicht nach am wichtigsten?
Rosa:
Ich bin mir sicher – viele, die zufällig dieses Interview lesen oder denen so ein Buch wie „Andersrum“ in die Hände fällt, tun es einfach ab, denken: „Das betrifft mich, meine Familie nicht!“ Natürlich vertraut man Partnern, mit denen man zusammenlebt, und so soll es auch sein. Aber das Vertrauen darf nicht blind sein, nicht auf Kosten eines kleinen Menschen, nicht wenn ein Kind alarmierende Signale aussendet, stumm um Hilfe ruft. Man hört sie nicht – diese Rufe, aber man kann sie fühlen … wenn man nicht die Augen und Ohren und das Herz verschließt. Ja, Vertrauen ist wichtig, aber auch dem eigenen Kind soll man Vertrauen schenken können.
Das kann jeder von uns – aufmerksam sein, auf die Kinder Acht geben, sei es eins aus der Nachbarschaft, aus dem Freundeskreis oder auch eins, das uns zufällig irgendwo begegnet.
Kompass:
Auch die Politik kann sicherlich mehr tun, als nur Placebo-Maßnahmen beschließen, wo wäre hier der richtige Ansatzpunkt aus deiner Sicht?
Rosa:
Es fällt mir schwer, Kindesmissbrauch aus politischer Sicht zu betrachten. Für mich ist das ein Verbrechen, das kein Gewissen kennt. Es sind Unmenschen, die leider viel zu gut das Tarnen verstehen. Sie haben sich überall eingenistet, in allen Bereichen – in der Kirche, in der Wirtschaft, in der Kunst und auch in der Politik. Wie bekämpft man sie mit Erfolg? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob dieser Kampf überhaupt ein Ende haben wird.
Aber natürlich kann die Politik einiges für Missbrauchsopfer tun. Die Betroffenen benötigen professionelle Unterstützung, und es müssten viel mehr Hilfestellen eingerichtet werden, die über ausreichend Fonds verfügen. An diesen Stellen darf nicht gespart werden! Eine Therapie ohne lange Wartezeiten muss möglich sein – in erster Linie für die Opfer. Und auf jeden Fall sollten die Strafen für Kindesmissbrauch härter werden. Aber einem guten, gewissenhaften Politiker fällt da viel mehr ein, und wenn alle unsere Politiker an einem Strang ziehen, dann kann der Kampf auch Erfolg bringen.

Aus Kommentaren
Ulrich S. sagt: Mich hatte es damals beim Lesen ein wenig mitgenommen, allerdings wird vieles eher umschrieben und die emotionalen Auswirkungen beschrieben.
Rosa sagt: Es war auch so gewollt – keine Gewaltszenen, keine Beschreibungen der Misshandlungen. Mir war wichtiger, zu zeigen, wie das Kind sich fühlt, was in ihm vorgeht, wie schlimm es ist, sich plötzlich zu erinnern und zu wissen – es war der eigene Bruder.
Nicht minder wichtig – die Botschaft, die ich vermitteln wollte und immer noch will: Solch ein Kind braucht Freunde – große Freunde –, denen es sich anvertrauen kann, die mit ihm behutsam umgehen, ihm Sicherheit geben und Mut machen. Erst dann kann das Kind wirklich den Weg finden – aus der Dunkelheit heraus ins Licht des Lebens. Und vielleicht gelingt es ihm dann sogar, die Stimme zu erheben – gegen seinen Peiniger – so wie Lisa es getan hat. Lisa wusste, es gibt jemanden, der hinter ihr steht und sie beschützt, jemanden, der sie wirklich liebt … Das gab ihr die Kraft. Die meisten der missbrauchten Kinder haben in Wirklichkeit keinen Schutz. Aber den brauchen sie und den können nur wir ihnen geben, wir Erwachsenen. Kein Duh, sondern DU und ICH.



Vielleicht verstehst du meine Gedanken: Ich denke, wir sollten das Kind in uns, also das Kind, das wir einst waren immer in Ehren halten und ihm aus der Gegenwart die Hand in die Vergangenheit reichen. Die Idee ist nicht neu, aber ich gehe weiter, indem ich behaupte, dass das Kind auf den Menschen setzt, der es einst sein wird und der sich dann eher zu wehren weiß. So ging es mir jedenfalls als Kind. Ich vertraute auf den, den ich mal sein werde und der für mich die Dinge regelt, für die ich jetzt zu jung bin. Und gerade deshalb sollten wir dem Kind in uns die Hand reichen, weil es auch uns aus der Vergangenheit die Hand reicht. Schwer zu erklären. Vielleicht aber auch ganz normal. Verzeih, wenn dir mein Kommentar etwas verrückt vorkommt. Ich habs schon versucht, anderen zu erklären. Die einen verstehen es und die anderen zeigen mir einen Vogel. Ist vielleicht auch zu philosophisch, aber psychologisch erklärbar.
Zu deinem Interview: Du hast alles richtig gesagt. Kein Pädagoge hätte besser erklären können, wieso der Kinderschutz unser oberstes Ziel sein muss, neben der Friedenserhaltung und Respekt und Achtung vor allen Menschen. Ich hab das Buch übrigens auch gelesen. Dein Bruder hast du ja wohl nicht mehr getroffen .. Aber so hast du immerhin eine späte Genugtuung. Bravo ❤
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Nein, deine Empfindungen sind überhaupt nicht verrückt, ich kann sie gut verstehen. Zwar habe ich als Kind wenig Gedanken an die erwachsene Rosa verschwendet, umso mehr aber – umgekehrt. Eben in diesem Sinne: ich versuche als Erwachsene, das Kind in mir zu schützen, zu trösten, es in die Arme zu nehmen. Das wiederum tröstet und bestärkt mich. Auch wenn so etwas physisch gar nicht geht, habe ich das Gefühl, dass es funktioniert, dass es so richtig ist. Auch schwer zu erklären. 😉
Stimmt – meinen Bruder habe ich, nachdem die Erinnerungen hochkamen, bis zu seinem Tod nicht mehr gesehen, nicht mehr gesprochen. Meine „Abrechnung“ für das, was er mir angetan hat, bekam er post-mortem.
Dass du mein Buch gelesen hast, weiß ich. Deine großartige Rezension ist immer noch bei Amazon zu finden. 😊👍
Liebe Grüße
Rosa
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Danke für das Lob und die Erinnerung. Hatte die Rezension fast schon vergessen, aber auch hier lasse ich die Verbindung über die Zeitebenen schon anklingen, wie ich eben neu gelesen habe. Ich habe einmal ein Buch gelesen, da hat ein Mädchen einen Ring von seiner Großmutter geerbt, durch den es in die Zukunft reisen kann und dort lernt sie eine alte weise Frau kennen und es stellt sich heraus, dass das sie selbst in der Zukunft ist. Das Phänomen ‚Zeit‘ finde ich sehr interessant, weil es auch die Vorstellung gibt, dass alles gleichzeitig abläuft und nur durch die Zeit gestreckt wird. Wir sind also Kind, Erwachsener und Greis in einem. Und diese drei Daseinsformen sollten wir immer miteinander kommunizieren lassen, keine unterdrücken. Wir sind alles auf einmal im Hier und Jetzt. Rosa, ich bin dankbar, dass es Menschen wie dich gibt und du musstest erleben, was du erlebt hast, um der Mensch zu werden, der du bist <3
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Ich danke dir! 💕
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