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Was würde Eugen sagen?

Was würde mein Ehemann, mit dem ich auch nach unserer Trennung eine gute Freundschaft pflegte, über den Krieg in der Ukraine, Putins Politik und die aktuelle Lage in Russland sagen?

Als waschechter Russe hatte er eine viel engere Verbindung mit den Menschen dort als ich, die sich bisweilen in dem Land fremd und fehl am Platz fühlte. Es war seine Heimat, in der er tiefe Wurzeln hatte, in dem seine Verwandten lebten, in dem seine Eltern, Großeltern und der einzige Bruder beerdigt sind.
Eins weiß ich – in Deutschland fühlte Eugen sich wohl und angenommen. Hier fand er sein Zuhause und schloss neue Freundschaften. Auch wenn er die Sprache nicht perfekt beherrschte, scheute er es nie, auf Deutsch zu sprechen und über verschiedene, manchmal schwierige, Themen zu disputieren. Schon wenige Monate nach unserer Ankunft hatte er einen Job gefunden, zwar nicht in seinem Beruf als Lehrer, sondern als einfacher Fabrikarbeiter, aber die Arbeit befriedigte ihn und gab ihm das Gefühl, ein gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein.
Wie wir uns damals, vor vielen Jahren, kennengelernt haben, ist eine längere Geschichte. Gern möchte ich dazu einen kleinen Auszug aus meinem Buch „In der sibirischen Kälte“ hier einfügen:

Aber am wichtigsten war für ihn, herauszufinden: Wie fördert man das Gute im Menschen, sodass es das Böse überwiegt?
Ich merke schon – es erübrigt sich, die Eingangsfrage zu beantworten, denn die Lösung liegt auf der Hand und ist glasklar. Ich bin auch überzeugt, er wäre entsetzt darüber, dass einige seiner Verwandten in Russland zu Putin halten und ihn bejubeln. Würde er mit ihnen diskutieren und versuchen zu erklären, was wirklich geschieht, würde er ihnen die Augen öffnen wollen? Ja, das würde er tun! Ich bezweifle jedoch, dass er damit Erfolg hätte. Sie würden ihm, wie auch mir, einreden wollen, er verstehe alles falsch und sogar – er sei ein Verräter seines Landes, das ihm ein glückliches Leben ermöglichte, ein Verräter seines Vaters, der einst dieses Land gegen den Faschismus verteidigte.
Stimmt, mein Schwiegervater war Veteran des Vaterländischen Krieges. Allerdings hatte er über seine Erlebnisse kaum gesprochen; er trank viel und starb infolge seines Alkoholismus, als er erst 53 Jahre alt war.
Einmal gestand er aber seinem Sohn etwas Abscheuliches, nämlich wie er und seine Kameraden sich auf dem Esstisch in einem von der sowjetischen Armee besetzten Haus in Deutschland erleichtert hatten (gelinde ausgedrückt). Ich war nicht dabei, als er ihm das gebeichtet hat und kann nicht sagen, ob er über diese Tat stolz war oder vielleicht doch sie im Nachhinein bereute. Aber Eugen schämte sich sehr für seinen Vater.
Meine Ehe mit Eugen hielt nicht für immer, dagegen aber bis zuletzt unsere enge Verbindung. Auch nach der Trennung konnte ich mit ihm über alles reden. Wie kein anderer, schaffte er es stets, mir mit seinen Worten Trost zu spenden und mich aufzubauen. Er war ein aufrichtiger, kluger, einfühlsamer Mann, der immer da war, wenn man ihn brauchte. Sein Lebensmotto „Denke zuerst an den Mitmenschen, danach – an dich selbst“ war nicht bloß eine leere Floskel. Nach diesem Prinzip hat er gelebt.
War er vielleicht zu gut für diese Welt und die Zeit einfach noch nicht reif für ihn? Musste er uns deshalb so früh verlassen? In einem bin ich mir sicher – er hätte noch viel Positives im Leben bewirken können.
Bei diesen Gedanken füllt sich mein Herz mit Wehmut. Er fehlt mir – dieser wunderbare Mensch. Er fehlt uns allen – allen, die ihn einmal kennen und schätzen gelernt haben.

Eugen in Deutschland, 1993

„Was würde Eugen sagen?“ ist im Almanach 2025 „Unser Schnee von heute“ des BKDR Verlages veröffentlicht (Hrsg. Artur Böpple).

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Autor:

Geboren bin ich 1954 in einem deutschen Dorf in Westsibirien (Gebiet Omsk), lebe seit 1992 in Deutschland. Nach 18 Jahren Bibliotheksarbeit in Omsk und 20 Jahren in der Stadtbücherei Lüdenscheid bin ich nun seit Dezember 2019 Rentnerin. Ich schreibe gern auf meinem Blog und verfüge über eine Homepage. Es gibt zwei Buchveröffentlichungen von mir: Autobiografisches „In der sibirischen Kälte“ und Novelle „Andersrum“. Außerdem bin ich Mitautorin in einigen Almanachen des BKDR Verlages und in verschiedenen anderen Anthologien.

11 Kommentare zu „Was würde Eugen sagen?

    1. Danke, liebe Bruni! Das Manuskript ist in russischer Sprache, also kann hier in Deutschland kaum jemand damit etwas anfangen. Es sei denn, ich übersetzte es. Dafür ist es allerdings zu kompliziert und, wie ich schon schrieb, oft sind Eugens Gedanken nicht nachvollziehbar. Aber ich lese immer wieder mal rein. 😉
      Herzliche Grüße
      Rosa

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  1. Ein wundervoller Nachruf, voller Liebe und Respekt. Diese Erinnerungen und Gedanken sind das Schönste, das ein Mensch hinterlassen kann, auch wenn er, wie Dein Eugen, viel zu früh gehen musste.

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