Veröffentlicht in Autobiografie, Elfchen, Persönliches

In einer anderen Welt

Ein kleines Notizbuch, noch aus alten Zeiten, mit allerlei Eintragungen und damaligen Adressen meiner Verwandten und Freunde ist verantwortlich für folgende Erinnerungen.

Notizbuch

Meine erste Wohnung

In der UdSSR lebten die Menschen in den Städten in Wohnungen, die ihnen vom Staat zugewiesen wurden. Nicht wenige der Russen lieben es anzugeben, dass die Wohnungen kostenlos waren. Von wegen! Nein, umsonst waren die nicht, denn auch wenn man sichtlich nicht viel Geld dafür zahlen musste, war es praktisch so, dass der Sowjetstaat seine Bürger von vornherein beraubte, indem er ihnen nur etwa 5–10 % ihres Verdienstes zahlte. Also enthielten die übrigen 90 % all das, was kostenlos proklamiert wurde. Und so einfach kam man in den Besitz solcher Wohnungen nicht. Es gab Listen, und die Listen waren lang. Es war auch nicht möglich, eine Wohnung zu mieten/zu vermieten, zu kaufen/zu verkaufen oder zu verschenken – das durfte man nicht, denn sie gehörte eben dem Staat, der die Kontrolle über den Wohnungsmarkt hatte. Also warten, bis du an der Reihe bist, nicht selten mehrere Jahre. Die Wohnungen waren oft zu klein für große Familien und in miserablem Zustand. Die alten Plattenbauten wurden kaum renoviert, schon gar nicht abgerissen. Von einer sogenannten kommunalen Wohnung, die sich mehrere Familien oder Einzelpersonen teilten (die gibt es jetzt noch, auch Baracken) will ich erst gar nicht reden.

Die allererste Unterkunft nach der Heirat kann ich allerdings nicht als Wohnung bezeichnen. Es war bloß ein Zimmer, das meinem Mann und mir ein älteres Ehepaar zur Verfügung gestellt hatte (als Privatbesitzern eines Hauses war ihnen dies erlaubt). Es enthielt alles in einem: Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer. Ein Badezimmer gab es nicht, für die Ganzkörperwäsche konnte man die öffentliche Banja (Badehaus) im Ort besuchen. Das Toilettenhäuschen befand sich in der hinteren Ecke des Gartens. Geheizt wurde mithilfe eines gusseisernen Kohleofens, darauf auch gekocht.

Ofen in Russland
Nicht derselbe Ofen, sondern eine entfernte, bessere Variante

Als der kleine Alexey schon da war, wurde meinem Mann im Sommer 1973 eine Zweizimmerwohnung zugesprochen (ein Privileg sozusagen, das ihm als Lehrer zustand). Was haben wir uns gefreut!

Nun kam der Tag der Besichtigung. Das zweistöckige Haus war ein Plattenneubau, mit insgesamt 24 Wohnungen. Unsere befand sich im 1. Obergeschoss. Schon vor dem Haus wurde unsere Aufmerksamkeit auf ein Holzbau gelenkt – eine Reihe von Toiletten!(?) Unsere Verwirrung war groß – es sollte doch eine Komfortwohnung sein, wozu denn die Plumpsklos draußen? Die Auflösung des Rätsels ließ nicht lange auf sich warten. An den zwei großen und hellen Zimmern hatten wir allerdings nichts zu beanstanden. Sodann öffneten wir die Tür zum vermeintlichen Bad. Uns empfing ein fensterloser und vollkommen leerer Raum, die dunkelblau gestrichenen Wände kahl. Es gab nicht einmal einen Wasseranschluss. Den fanden wir dann über dem Spülbecken in der Küche. Also fließendes (kaltes) Wasser hatten wir. Und eine Fernheizung. Und einen Gasherd. Immerhin.

Wahrscheinlich werdet ihr mir kaum glauben, doch es ist die Wahrheit. Ich weiß aber nicht, wie und warum so etwas möglich gewesen war. Keiner hatte nachgefragt. Die russische Mentalität – man war zufrieden mit den Kleinigkeiten, die der Staat einem zuwarf. Oder so … Ich mit meinen damals 19 Jahren konnte gewiss nichts bewirken. Es versteht sich von selbst, dass unsere Wohnung nicht die einzige unvollständige in diesem Haus war, alle 24 (ebenso im Nebenhaus) hatten keine Sanitäreinrichtungen. Vermutlich wurden sie von den Bauarbeitern einfach an sich „gerissen“ – so etwas war weitverbreitet im sogenannten Sozialismus.

Nun, ich will hier nicht beschreiben, wie es sich so wohnte ohne Badezimmer und mit Toilette draußen, man kann es sich lebhaft vorstellen, besonders in der Winterzeit.

Wir verbrachten nicht allzu lange in dieser Wohnung; im Herbst 1975 zogen wir aus Moskalenki nach Omsk und in andere Wohnverhältnisse … aber das ist wieder eine Geschichte für sich.

Auf dem Beitragsbild habe ich das Häkchen über dem betreffenden Haus gesetzt; bessere Ansicht konnte ich leider nicht bekommen und ich wollte euch auch noch ein wenig von der Umgebung zeigen. (Ob die Plumpsklos noch existieren?).

Es ist äußerst verstörend, den Ort, in dem mein erwachsenes Leben seinen Lauf nahm, plötzlich so nah wiederzusehen (Google Maps sei Dank).

Elfchen zum Thema

Sibirien,
Kaltes Land,
Mein altes Leben
Holt mich manchmal ein.
Albtraum!
Plattenbau
Russland Siebzigerjahre,
Wohnung im ersten Obergeschoss.
Holzbau vor dem Haus …
Plumpsklos!
Besichtigung,
Erste Wohnung.
Schlag ins Gesicht -
Kein Badezimmer, keine Toilette.
Sozialismus!
Moskalenki,
Ehemaliger Wohnort.
Bin plötzlich mittendrin,
Fühle mich wie damals.
Verstörend!
Avatar von Unbekannt

Autor:

Geboren bin ich 1954 in einem deutschen Dorf in Westsibirien (Gebiet Omsk), lebe seit 1992 in Deutschland. Nach 18 Jahren Bibliotheksarbeit in Omsk und 20 Jahren in der Stadtbücherei Lüdenscheid bin ich nun seit Dezember 2019 Rentnerin. Ich schreibe gern auf meinem Blog und verfüge über eine Homepage. Es gibt zwei Buchveröffentlichungen von mir: Autobiografisches „In der sibirischen Kälte“ und Novelle „Andersrum“. Außerdem bin ich Mitautorin in einigen Almanachen des BKDR Verlages und in verschiedenen anderen Anthologien.

8 Kommentare zu „In einer anderen Welt

  1. Danke für die geteilte Erinnerung, liebe Rosa! Man kann nicht oft genug über den eigenen Tellerrand schauen, um geerdet und zuweilen dankbar zu sein. Denn selbst diese beschriebenen, für uns albtraumhaften, Zustände, bedeuteten damals für irgendjemanden in einem fernen Winkel der Welt das Paradies. Und zur selben Zeit existiert im „privilegierten Westen“ der Überfluss und mit ihm der Vandalismus „Wer hat, der hat!“ (Ich weiß, ich weiß – sehr plakativ, vereinfacht und polarisierend.)

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    1. Ich kannte damals kein anderes Leben, hatte noch keine Verwandtschaft in Deutschland, die mir von einem besseren Leben erzählen hätten können. Das war wahrscheinlich auch gut so, sonst wäre ich verrückt geworden. Ich weiß noch, wie ich mich nach dem ersten Einkauf bei REAL fühlte …
      Und du hast recht, was den „privilegierten Westen“ angeht – plakativ hin oder her. Es muss noch wahnsinnig viel getan und geändert werden. Ob wir das noch schaffen? Aber ich denke / hoffe doch, dass wir auf einem guten Weg sind.

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  2. In den 50er Jahren hatten die Häuser bei uns auch zum großen Teil noch keine Toiletten mit Wasserspülung, keine Bäder und keine Zentralheizung.
    Das alles kam nach und nach, liebe Rosa. Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als die Toilette noch draußen war, dann wurde sie ins Haus rein verlegt, aber die Wasserspülung kam noch später.
    Und einmal/Woche gingen wir zu den Badewannen, die in der neuen Schule eingebaut worden waren.
    Alles in den 50ern und dann kamen die 60er und alles wurde etwas einfacher und moderner…
    Das neue Bad war toll, lag aber in einem der Kellerräume, bzw. ein Teil der großen Waschküche wurde abgtrennt und schon war Raum für das Bad vorhanden.
    Leider wurde der Spiegel so hoch angebracht, daß ich mich nicht darin sehen konnte :-)

    Lieber Gruß von Bruni an Dich

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    1. Liebe Bruni,
      vielen Dank für Deinen Kommentar. Ja, so war es in meiner Kindheit auch – im Dorf, und das war normal für mich, für alle. Ich kannte als Kind nichts anderes. Aber in einer, wenn auch kleiner, Stadt, in einem Hochhaus (auch wenn es nur zwei Etagen waren), in den 70-80ern? Bauen, wie die Bauherren es gerade so wollen, ohne Standards, ohne Regeln zu beachten? Einfach die Menschen verarschen (sorry)? Und das im großen Stil, sozusagen! Wo gabs und gibt’s das noch? So etwas war nur im „Sozialismus“ möglich und das zu zeigen war mein Anliegen. In Russland lebt jetzt noch ca. 30 % der Bevölkerung ohne Wasserversorgung und ohne Kanalisation. Und in meinem Heimatdorf gibt es immer noch die Plumpsklos!

      Dieses Video (von 2019) spricht für sich, da ist auch eine deutsche Übersetzung des Kommentators nicht nötig.

      Herzliche Grüße
      Rosa

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