Im Herbst 1936 wurde der junge russische Poet Alexandr Jegorow verhaftet. Er hatte in der Fabrik „Für das sowjetische Kugellager“ (klingt vollkommen bescheuert, ist aber die wörtliche Übersetzung) gearbeitet und gelegentlich lyrische Texte in der fabrikeigenen Zeitung publiziert. Ihm wurde vorgeworfen, seine Gedichte seien pessimistisch, nach Jessenin klingend und ausweglos. Laut Zeugen benahm er sich als Mitglied des Lyrik-Zirkels besonders auffällig, zweifelte daran, dass das Leben „besser und fröhlicher“ wurde, sah unzufrieden aus und reflektierte diese Stimmung in seinen Gedichten.
Ich schaue in alle Richtungen.
Um mich herum werden Felder grün.
Ich seh’ weder Pflüge noch Eggen
Keine Seele begegnet mir.
Wie’s scheint, braucht mich niemand
Ich kann zu niemandem geh’n,
Bin verdächtigt, als Freund der Vergangenheit
Auf der anderen Seite zu steh’n.
Die ungestüme Zeit ist vorbei,
Gras überwuchert die Jugend.
Wie viele Jahre noch werde ich sein,
Wie lang meinen Windkopf noch tragen?
Alexandr Jegorow
(Übersetzung: Rosa Ananitschev)
Das Gericht befand ihn nach 58 § für schuldig und verurteilte ihn zu drei Jahren Haft. Na, immerhin – nicht die Höchststrafe für solch höchst pessimistische Gedicht!
Neulich habe ich erfahren, dass Andrej Schalajew, Betreiber der russischen Plattform Bessmertnyj Barak (Immortalgulag, siehe auch Instagram, wo der unten angefügte Beitrag veröffentlicht ist), das Land verlassen musste.
Andrej hat sich zu seiner Lebensaufgabe gemacht, die Repressierten des Gulags sichtbar zu machen; zu vielen Namen und Gesichtern gibt es auf der Seite zusätzlich ihre Schicksalsgeschichten.
Jeder kann zu seiner großartigen Arbeit etwas beitragen. So habe auch ich einen Account auf dieser Plattform und über Großvater und Vater berichtet.
Auf der Startseite des „Immortalgulag“ ist ein spezieller Zähler installiert; wie man sehen kann, sind bis jetzt schon mehr als zweieinhalb Millionen Namen zusammengetragen worden, und die Zahlen laufen stetig weiter.
Nun wird Andrej selbst verfolgt. Aber wen wundert das? Doch ist es ihm gelungen, alle wichtigen Daten zu sichern und mitzunehmen, und zum Glück kann er die Seite auch aus dem Ausland führen. Ich bin ihm sehr dankbar für seine wertvolle und unermüdliche Arbeit und wünsche ihm viel Glück.
PS: Habt ihr schon gehört: In Russland wurde eine junge Frau für fünf Tage ins Gefängnis gesteckt, weil sie Ohrringe in gesetzwidrigen Farben trug. Regenbogen ist nämlich in meiner alten (aus allen Fugen geratenen) Heimat streng verboten.



Regenbogen streng verboten! Das ist unglaublich, aber leider der Ausdruck der schlimmen Repressalien gegen LGBTIQA Personen. Es ist so erschreckend. Und in Österreich hat eine Partei, die aktuell in allen Umfragen zur diesjährigen Nationalratswahl die vorne liegt, ein „Freundschaftsabkommen“ mit der regierenden Partei im Kreml.
Danke liebe Rosa für diesen Einblick in den russischen Alltag. 🌈💪❣️
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Es sollte heurig, d.h. diesjährigen Nationalratswahl heißen. Die Autokorrektur hat wieder einmal den Sinn verändert.
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Habe ich korrigiert. 😉
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Danke dir 😊
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Das ist auch erschreckend! 😨 Vielen Dank ebenso fürs Lesen. 💕
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Ich bin immer ganz schockiert über deine Detailinformationen über die Zustände in Russland, dabei lassen ja die allgemeinen Informationen nichts anderes erwarten.
Immortalgulag ist ja ein großartiger Name für diese Plattform!
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Es wird noch lange so bleiben, fürchte ich.
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Ja, danach sieht es aus …
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Liebe Rosa,
unfassbar, wie man einem jungen Dichter seine tiefe Nachdenklichkeit vorwerfen kann? Diese kann ich in seinen Zeilen lesen – und diese macht wohl sein spirituelles Wesen aus! Und selbst, wenn seine Worte sehr pessimistisch wären … Niemals auch nur ein Hauch von Grund, um dafür verhaftet zu werden!
Ob in D und Ö überhaupt alle Menschen wissen, in welch sicherem Hafen wir alle leben? Wir dürfen unsere Meinung frei äußern, und selbst, wenn uns so manche Meinungen nicht gefallen, sie können (oft schäme ich mich fremd!) geäußert werden.
Ja, ich fürchte, im Herbst werden wir ein schlimmes Wahlergebnis einfahren. Mir graut davor …
Ich wünsche allen Menschen Glück, die sich mutig und tapfer diesem Regime entgegensetzen. Ich glaube, insgeheim sind es noch viel mehr, die das Treiben nicht gutheißen, als wir vermuten …
Herzensgrüße, C Stern
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Das ist eine gute Frage. Ich kenne einige, die behaupten, wir würden uns schon in der tiefsten Diktatur befinden, zumindest darauf zuschreiten. Ich sage dann immer, wenn ich die Gelegenheit dazu bekomme: „Ihr wisst gar nicht, was Diktatur bedeutet …“
Die Wahlen in Russland versprechen wieder eine Farse; es ist vorauszusehen, wie sie ausgehen. Ja, viele in diesem Land sind gegen das Regime, bloß kann sie keiner organisieren, und jeder für sich allein ist nicht imstande, etwas zu bewirken; im besten Falle wird derjenige nicht beachtet, im schlimmsten für viele Jahre weggesperrt. Jetzt wird schon in den höchsten Ebenen diskutiert, wie mit dem Eigentum der Verurteilten zu verfahren ist. Stalin lässt grüßen. 😳
Trotz alledem trage ich noch ein Körnchen Hoffnung in mir.
Liebe Grüße
Rosa
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Als ich jung war, hatte ich so viele naive Träume und Vorstellungen, wie wir Menschen in respektvollem Miteinander die Erde bewohnen könnten, und ich freute mich über jeden kleinen Schritt, der in diese Richtung wies und verehrte jeden, der aktiv dazu beitrug.
Heute bin ich bis ins Mark desillusioniert! Wir sind zu viele. Wir sind zu gierig. Wir sind zu egoistisch. Wir sind machtbesessen. Wir sind ideologisch oder religiös verblendet. Wir sind gewalttätig. Wir herrschen durch Angst und Erniedrigung.
Die Grenzen mögen sich verschieben und Völker sind auf der Flucht oder Wanderschaft, um regionalem Wahnsinn zu entgehen. Doch im Kern wird sich nichts ändern, weil die ‚Guten‘ eben nicht die verachtenswerten Methoden anwenden, um zu überzeugen, so wie es die ‚Bösen‘ hemmungslos tun.
Von was für jammervollen Schissern wird Russland regiert, wenn sie sich so vor den eigenen Schatten fürchtet, auf dunkle Wolken schießt und dem Wetter die Regenbögen verbietet? Ein freier, offenherziger und liebevoller Geist bräuchte weder Kritiker, Künstler oder Andersdenkende zu fürchten! Aber es gibt etliche andere Länder wo ähnlich klägliche Haufen Verblendeter mit Angst, Schrecken und Gewalt versuchen, Menschen zu infiltrieren, zu vergiften und für ihre Zwecke gefügig zu machen.
Ich wüsste allzu gerne, was über uns in den Geschichtsbüchern der kommenden fünfhundert Jahre stehen wird, sofern unsere Spezies so lange überlebt.
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Traurig, aber so wahr – deine Worte, liebe Heather.
In fünfhundert Jahren? Wenn immer mehr Kriege entfachen? Die Erde wird es sehr schwer haben, vor allem – die Menschheit. Das werde ich, die ich jetzt bin, nicht mehr erleben, dafür wohl ein anderes ICH … davor graut es mir. Oder es gibt irgendwann gar kein ICH mehr …
Herzliche Grüße
Rosa
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ICH ist ein Partikel von NICHTS. Wir alle zusammen wären dann nichts.🤔
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Liebe Heather, wie kommst du zu solch einer pessimistischen Schlussfolgerung? Aus meinem Text geht das jedenfalls nicht hervor. 😉 NICHTS besteht in diesem Fall doch bloß aus Buchstaben und hat mit ICH nichts zu tun. Kann man auf diese Weise nicht alles zerpflücken? 😊
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Es war auch nur ein nicht ganz ernst zu nehmendes Wortspiel zu deinem Kommentar: N-ICH-TS. Das Ich nach dem Tode zu verlieren, um im Nichts aufzugehen, scheint viele zu erschrecken. Ich als Agnostikerin empfinde das als nicht pessimistisch, aber es tut mir ehrlich leid, wenn ich missverstanden wurde. 😉
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Sorry, da habe ich wohl deine Worte zu wörtlich genommen und – mich gewundert. 😃
Du hast ja recht, viele erschreckt dieser Gedanke. Aber, wie schon erwähnt, denke und empfinde ich ganz anders. 😉
Liebe Grüße
Rosa
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Schrecklichkeiten, die man/frau nicht verstehen kann, liebe Rosa, aber ich verstehe bis heute auch die Greuel an den Juden im 3. Reich nicht.
Der Mensch kann so liebenswert, aber auch so grausam und so dumm sein, wenn es ihm in den Kram passt.
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… Und wenn so einer mit Seinesgleichen an die Macht kommt, dann leiden Millionen und mit der Menschlichkeit ist es aus.
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So sieht es wohl aus, liebe Rosa…
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Ach wie unsäglich, es ist schwer zu ertragen, danke dafür, dass du so mutig bist, diese Ungeheuerlichkeiten zu benennen.
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