Obwohl ich mich zunächst entschlossen hatte, dem keine Beachtung zu schenken und mich nicht aufzuregen, merke ich, dass es mir doch keine Ruhe lässt. Also habe ich beschlossen, die Sache auf eine andere – auf meine – Art abzuhaken: indem ich meinen Gedanken hier freien Lauf lasse.
Zum besseren Verständnis muss ich allerdings ein wenig ausholen.
Eine der größten Bewunderinnen des Buches In der sibirischen Kälte ist meine elf Jahre ältere Schwester. Sie macht unermüdlich Werbung dafür – bei Bekannten, Nachbarn und sogar bei Ärzten. Ich finde, sie übertreibt, aber ich kann sie schlecht davon abhalten. Natürlich hat sie das Buch gleich zu Beginn auch unseren nächsten Verwandten wärmstens empfohlen, wurde jedoch von dem einen oder anderen empört zurückgewiesen – mit der Aussage: „Das lese ich nicht – alles nur erdacht und erlogen!“
Oh ja, ich weiß genau, wer so oder so ähnlich denkt. Und doch bleibt mir eines unerklärlich: Wie kann man behaupten, etwas sei eine Lüge, ohne den Inhalt zu kennen? Wie kann man ausschließen, dass zumindest ein Teil der Geschichte der Wahrheit entspricht?
Meine treue Schwester ist inzwischen so weit gegangen, dass sie das Buch unserem Cousin in Russland hat zukommen lassen. Zwar musste sie lange auf eine Rückmeldung warten, doch sie kam – mit der Entschuldigung, es habe so lange gedauert, weil das Buch auf Deutsch geschrieben sei … Verständlich: Der gute Mann hat nicht oft Gelegenheit, deutsche Texte zu lesen. Aber er kennt die Sprache – schließen ist er deutscher Nationalität und ein in seiner Gegend angesehener, wenn auch bereits pensionierter, Arzt.
Jetzt kommt’s … das Feedback.
(Sinngemäß von meiner Schwester an mich übermittelt.)
Tja, wie zu erwarten war – es fällt nicht gut aus.
Erstens: Wie könne ich nur so kaltblütig meiner eigenen Mutter Vorwürfe machen und sie als schlechte Mutter darstellen! Seine Tante sei eine sehr liebenswerte Frau gewesen, die viel durchgemacht, stets hart gearbeitet und alles getan habe, um ihre sieben Kinder großzuziehen und zu ernähren.
Ich frage mich: Habe ich es wirklich so dargestellt? Habe ich irgendwo auch nur einmal geschrieben, dass ich kein Verständnis für das hatte, was meine Mutter ertragen musste? Dass ich kein Mitgefühl für sie hatte? Dass ich sie nicht liebte? Habe ich irgendwo behauptet, sie hätte ihre Kinder nicht geliebt?
Eigentlich wollte ich genau das Gegenteil vermitteln.
Hat er womöglich nicht alles verstanden? Nicht verstanden, wie weh es mir tat, meine Mutter unglücklich zu wissen? Wie sehr ich sie dennoch in vielen Lebenslagen selbst brauchte – eine Mutter, die mit mir fühlte, die für mich da war?
Zweitens: Er könne nicht glauben, dass die Geschichte über den Kindesmissbrauch der Wahrheit entspreche, weil …
– … es nicht sein könne, dass Erinnerungen an etwas so Furchtbares erst nach Jahrzehnten hochkommen; ein Kind vergesse so etwas nicht.
– … er als Arzt viele vergewaltigte Kinder behandelt habe; solche Verletzungen seien gravierend und könnten nicht unbemerkt bleiben.
– … er sich mit der menschlichen Psyche auskenne: Gewöhnliche Alpträume könnten einen dazu verleiten, sie für wahr zu halten, sich in sie hineinzusteigern und schließlich zu glauben, es handle sich um eigene Erinnerungen. Tatsächlich seien es WAHNVORSTELLUNGEN.
Es folgten noch weitere „fachliche“ Begründungen, die ich hier nicht zitieren möchte – sie sind gewissermaßen intimer Natur.
Und ich verspüre auch kein Bedürfnis, seine Worte zu kommentieren oder mich zu rechtfertigen. Das ist sicher nicht nötig. Man muss sie einfach einmal auf sich wirken lassen …
Eine Bemerkung kann ich mir dennoch nicht verkneifen:
Es ist faszinierend, wie mein Cousin aus der Ferne alles so klar erfassen, durchschauen, analysieren und dann auch noch die richtige Diagnose stellen kann! Ein Doktor eben.





Liebe Rosa,
Das ist schmerzhaft, was du beschreibst.
Zur Ferndiagnose deines Cousins möchte ich dir mitteilen, dass er keine Ahnung von Trauma nach sexualisierter Gewalt hat.
Schwere (sexuelle) Gewalt an Kindern ist im Normalfall vollkommen verdrängt, wenn es keine Hilfestellung für das Kind gab. Nur wenn es für das Kind empathische Hilfe gibt, kann es irgendwie vermittelt werden, was geschehen war. Das Verdrängte findet zumeist um das 30. Lebensjahr wieder ins Bewusstsein (kann auch ein paar Jahre früher oder später sein), je nachdem wann es genug Abnablung und Sicherheit im Leben der Betroffenen gibt.
Es tut mir so leid, dass er so schlimm reagiert hat. ….. Hat deine Schwester auch Missbrauch erlebt und sie sucht im Familienkreis eine Bestätigung für sich über dein Buch. Damit ist sie selbst sicher, bis sie Verständnis findet. Vielleicht ist ihr das gar nicht so bewusst. Oder hat sie den Missbrauch an dir miterlebt und ist sozusagen secondär traumatisiert?
Herzliche Grüße und ich hoffe, es geht dir schon besser.
„Benita“
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Danke, liebe Benita, für deine Worte!
Nein, meine Schwester hat keinen sexuellen Missbrauch erlebt, aber andere schlimme Dinge, worüber ich auch im Buch schreibe. Sie ist sehr beeindruckt von dem Buch und möchte, dass so viele wie möglich es lesen, nur fehlt ihr manchmal das Feingefühl, wem sie es zum Lesen geben kann und bei wem sie es lieber lassen soll. Was den Cousin betrifft, so war mir klar, dass er den größten Teil, worüber ich geschrieben habe, negativ auffassen und ablehnen würde. Allerdings verteidigt sie mich dann auch und versucht gegen zu argumentieren, wenngleich ihre Worte meistens auf taube Ohren stioßen und Empörung hervorrufen. Es geht ja nicht nur um den Missbrauch, es ist auch meine Lebensweise, die einige meiner Verwandtschaft so abscheulich finden. Damit fangen doch alle meine „Lügen“, mein Falschsein an … Aber es kümmert mich mittlerweile recht wenig, was sie über mich denken und reden. Mit dem Blog-Artikel wollte ich nur einmal mehr klar machen, wie so manche Menschen ticken, wenn sie „Kindesmissbrauch“ hören …
Herzliche Grüße
Rosa
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Liebe Rosa,
Danke fürs aufzeigen der Reaktion anderer auf „Kindesmissbrauch“. Solches Verhalten ist vor allem innerhalb der Familie sehr oft anzutreffen, leider. Sonst könnte er wohl gar nicht geschehen, denke ich. Und es tut immer wieder weh, weiß ich aus eigener Erfahrung.
Alles Liebe
„Benita“
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Ja, da hast du recht – sonst könnte es gar nicht geschehen, zumindest nicht so massiv …
Dir auch alles Liebe
Rosa
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☺️🌼🌻
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Liebe Rosa, ja es schmerzt – wahrscheinlich den Rest eines Lebens – wenn man solche Urteile liest, wo man doch weiß, dass sie falsch sind – und dann noch in der eigenen Familie und als ‚Nestbeschmutzer‘ bezeichnet wird. Ich war 36 Jahre alt, als mein Missbrauch ‚hochgeploppt‘ ist… Damals hat mir sehr geholfen das Buch von Alice Miller „Du sollst nicht merken“ zu lesen, dort stehen die Hintergründe drin, wieso die Verdrängung in unserer Gesellschaft in diesen Dingen auf diese Weise so funktionieren – und auch wohl auch in Russlands und Russlandsdeutschen- Verhältnissen – ich nehme an auf der ganzen Welt. Du hast recht, dass Du Dich nicht rechtfertigen willst – es ist ohnehin sinnlos bei solchen Menschen, wo soviel Seelenblindheit vorhanden ist.
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Und gerade ein Arzt müsste doch sein Hirn einsetzen und überlegen! Auch wenn er mir nicht glaubt (weil so etwas in seiner Familie doch gar nicht sein darf!), was ist denn mit all den anderen Missbrauchsfällen, die unbemerkt und unentdeckt bleiben? Mit den „unverletzten“ Kindern, die dennoch missbraucht sind? Definiert er Missbrauch nur als Vergewaltigung? Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass mein Cousin so wenig Verstand hat …
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Ja, das ist möglich, dass in seinem Hirn verankert ist, dass nur sichtbare Vergewaltigung ein Missbrauch sein kann. Das würde ja auch eine Menge über IHN aussagen. Und weil er Arzt ist sollte er es wissen? Oje, es gibt Ärzte die soviel Pfusch machen, die so wenig über die Psyche ihrer Klientel wissen, die selbst missbrauchen….die morden, (z.B. Mengele) und es gibt Therapeuten, die ihre Klienten missbrauchen, obwohl sie es wissen… und und und, es ist keine Frage des Berufstandes!
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Da hast du recht. Ich will ihm dennoch nichts unterstellen und habe auch kein Bedürfnis, mit ihm zu diskutieren. Zum Glück leben wir in zwei völlig verschiedenen „Welten“ und können uns nicht über den Weg laufen 😉
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