Veröffentlicht in Persönliches, Träume

Post mortem

Wenn etwas Wichtiges ungesagt bleibt oder du sogar bewusst etwas vor einem nahestehenden Menschen verheimlicht hast, dann beschäftigt dich das auch nach seinem Tod. Jedenfalls geht es mir so in Bezug auf meine Eltern.

Meine Mutter starb 1971, sie war erst 58 Jahre alt. Ich war siebzehn und hätte ihr damals auch nichts erzählen können, einfach, weil ich noch nicht wusste, was mich in der Zukunft erwartete, wie sich mein Leben wandelte. Außerdem hatten wir über persönliche oder intime Dinge nicht gesprochen. Ich traute mich nie, ihr etwas über meine Ängste, Probleme und Sorgen zu erzählen, und sie hatte auch nicht danach gefragt. Alles, was ein Mädchen zu gegebener Zeit wissen sollte, erfuhr ich aus anderen Quellen – nicht von meiner Mutter. Heute kann ich besser verstehen, warum sie so war und was sie quälte.

Mein Vater hatte ein langes Leben, er wurde 91 Jahre alt und starb im April 2006. Auch mit ihm führte ich als Jugendliche keine persönlichen Gespräche. Als Erwachsene konnte ich mich mit ihm besser austauschen. Dennoch hielt ich von ihm meine Homosexualität geheim, obwohl ich schon seit 1997 mit meiner jetzigen Frau zusammenlebte. Aber die Stiefmutter war eingeweiht, mit ihr hatte ich diesbezüglich eine heftige Auseinandersetzung; letztlich akzeptierte sie meine Lebensart und lernte sogar meine Partnerin kennen. Hatte sie Vater davon erzählt? Eher nicht, denn sie wollte ihn, wie sie selbst sagte, nicht aufregen. Ich vermute aber, Vater ahnte es. Auf jeden Fall wusste er von mir selbst, dass ich mit meiner Freundin eine gemeinsame Wohnung teile, interessierte sich jedoch nie, aus welchem Grund. Nur einmal fragte er mich (es war kurz vor seinem Tod), ob ich noch immer „mit der Newesta“ (deutsch – Braut), wie er sich ausdrückte, zusammen lebe. Dabei lachte er. Ich staunte innerlich, lachte aber mit, als ich es ihm im gleichen Ton bestätigte. Ob es mehr als nur ein Scherz war?

Ich machte mir oft Gedanken, wie die Eltern auf das Anderssein ihrer Tochter reagiert hätten. In meinen Träumen nehmen sie es stets als die normalste Sache der Welt auf. Außergewöhnlich und erwähnenswert sind insbesondere zwei davon. Der erste liegt schon ein paar Jahre zurück und doch habe ich ihn noch klar in Erinnerung. In diesem Traum traf ich meine Mutter. Mir war klar – sie ist tot, gleichzeitig war ich sicher, dass sie wirklich gekommen ist, um sich mit mir auszusprechen. Nie zuvor hatte ich in der Realität ein so tiefes, warmes, schönes Gefühl der Nähe und Geborgenheit gespürt. Als ich aufwachte, hätte ich nicht wiedergeben können, was sie mir erzählte. Ich wusste nur, es war bewegend, und auch ich vertraute meiner Mutter alles an, was mir auf dem Herzen lag – alles. Das Wundervollste war – sie fühlte mit mir, sie verstand mich, nahm mich an, wie ich war. Dann tat sie etwas ganz Unerwartetes, was sie zu Lebzeiten nie über sich gebracht hatte. Sie schloss mich in ihre Arme. Wir weinten beide und in diesem Moment begriff ich, wie viel Sorgen sie sich um mich machte, wie sehr sie mich liebte, auch wenn sie ihre Liebe nie richtig zeigen konnte …

Auch die zweite, vor einigen Wochen geträumte Szene gibt mir zu denken.
Mein Vater und ich machen einen Spaziergang durch die Straßen Hemers (was wir in Wirklichkeit nie getan haben) und unterhalten uns. Ich soll einen Mann heiraten und Vater erzählt mir von ihm, sagt, dass es ein Guter ist und ich mit ihm ein sicheres Leben führen werde. Zunächst stimme ich ihm zu, streite nicht ab, dass es ein liebenswerter Mann ist. Dann aber schüttele ich den Kopf und sage: „Nein, Papa, wie gut dieser Mann auch sein mag, heiraten kann ich ihn nicht. Wie Ihr wisst, bin ich mit Dagmar zusammen und so etwas kann ich ihr nicht antun.“ Vater bleibt stehen, dreht sich zu mir um, wird nachdenklich. „Du hast recht“, sagt er schließlich, „das darfst du ihr wirklich nicht antun.“ Er sieht mich mit einem warmen Lächeln an und umarmt mich. „Dann wünsche ich dir viel Glück mit deiner Dagmar.“

Eine Verständigung post mortem, um es einmal so auszudrücken? Ist das möglich? …
Ja, ich kann mir gut vorstellen, dass es in unserem Leben auch Übersinnliches gibt und dass der eine oder andere Traum einen tieferen Sinn hat. Vielleicht wollen solcherart Träume uns das klar vor Augen führen, was wir unterschwellig immer schon ahnten und fühlten, uns zeigen, wie es wäre, wenn? …
Oder sind sie doch nur das Produkt (m)eines Wunschdenkens, (m)einer Sehnsucht nach Harmonie? …

Autor:

Geboren bin ich 1954 in einem deutschen Dorf in Westsibirien (Gebiet Omsk), lebe seit 1992 in Deutschland. Nach 18 Jahren Bibliotheksarbeit in Omsk und 20 Jahren in der Stadtbücherei Lüdenscheid bin ich nun seit Dezember 2019 Rentnerin. Ich schreibe gern für meine Blogs und für die Homepage. Es gibt zwei Buchveröffentlichungen von mir: "In der sibirischen Kälte" und "Andersrum". Einige meiner Texte sind auch als eBooks im Internet frei zugänglich.

11 Kommentare zu „Post mortem

  1. Nimm es doch einfach so, wie es für dich am besten ist! Diese Gefühle von Angenommensein und Nähe und vor allem Geborgenheit sind nicht umsonst des Nachts gekommen, denke ich! Das ist schön! Andere „Stricke“, die dich noch mit deinen Eltern verbinden, kann man getrost kappen, das wäre gesund! Bei mir ist es auch so gewesen und es fühlt sich sanft und gut an!
    Gruß von Sonja

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  2. Vielleicht ist es so, vielleicht ist es anders. Wir erfahren das vielleicht einmal, oder nicht, hmm…

    Ich denke mir aber, dass wenn Menschen in einen Himmel kommen würden, sie grundsätzlich ihre Meinungen und Einstellungen, die sie in ihrem Leben hatten, dort behalten. Wenn dein Traum also so abgelaufen ist, und er im Traum eingesehen hat, was du ihm gesagt hast, ist der Traum positiv zu deuten, und du bist ja frei, niemand bestimmt über dich. Vermutlich gehen die Seelen irgendwann eh weiter, sie leben ja nicht mehr im Reich der Sterblichen und vergessen vielleicht irgendwann ihre irdischen Verbindungen, vielleicht nicht ganz, aber ich nehme an, es gibt dort weitere Wege, die man gehen kann und die ihre Aufmerksamkeit erfordern werden.

    Klingt wirklich positiv, was du im Traum erlebt hast. 🙂

    LG Joe

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    1. Wir erfahren es eher nicht. An Himmel und Holle oder ein Weiterleben nach dem Tod glaube ich sowieso nicht 😉, aber vielleicht an eine Art Energie, die von uns übrig bleibt. Obwohl im Falle des letzteren bliebe auf der Erde auch viel zu viel negative und böse Energie und das wäre überhaupt nicht gut. 😟
      Danke, Joe, für deine Rückmeldung. 💕
      Liebe Grüße
      Rosa

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  3. Liebe Rosa,
    deine Träume könnten Ausdruck deiner verarbeitenden Suche und intensiven Sehnsucht nach Akzeptanz und Liebe sein. Vielleicht ist es überhaupt nicht wichtig, ob wir uns auf mystischen Wegen mit Verstorbenen verständigen oder es ein Wissen, eine Kommunikation, über den Tod hinaus gibt, sondern ob wir uns aussöhnen können, solange WIR noch leben. Versöhnung mit uns selbst und Verzeihen über den Tod hinaus bringt die Hoffnung auf Seelenfrieden in unser Leben. Unsere Eltern waren Kinder ihrer Zeit und wir die, der heutigen. Wir lernen, wir verändern. Erst uns, dann andere.
    Ich hoffe, du hast noch viele GUTE Träume mit deinen Eltern!
    LG, Heather

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    1. Danke, liebe Heather! Ja, ich träume viel und auch immer in Farbe. Oft sind das ganze Geschichten, die ich leider nur zum kleinen Teil nach dem Aufwachen wiedergeben kann. Und manche sind dann so klar und außergewöhnlich, dass sie mich noch lange beschäftigen, so wie die zwei beschriebenen, oder der hier: https://rosasblog54.com/2020/09/24/begegnung/ (Wie ich gerade sehe, hast Du diesen Beitrag auch schon gelesen). 😊
      Was auch immer diese Träume sind, ich kann daraus nur Positives ziehen, und so soll es auch sein. So soll es bleiben. 😊
      Herzliche Grüße
      Rosa

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  4. Liebe Rosa,
    Diese Träume erinnern mich an Träume von mir. Sie sind so real wie reales Leben. Ich bin überzeugt, dass unsere Energie nach unserem Tod weiterlebt. Aber kann es eine Verbindung zwischen der „verstorbenen“ Energie und uns Lebenden geben? Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass diese traumhaften Begegnungen friedlich und gut verlaufen sind. Bei dir und bei mir. Ich denke, diese Träume sind ein Geschenk.
    Liebe Grüße, Crissy

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